Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und Terpentin.

9. Kapitel: Wie der Schildplattenpsychiater den Geheimrat einer ungewöhnlichen Behandlung unterzog, um ihn von seinem Theseus-Komplex zu heilen.

Als sie die Bürger um eine Auskunft nach dem rechten Weg zum Psychiater fragte, lösten sie damit Hoffnung und Freude aus. Es handle sich bei dem Psychiater nämlich, so wurde ihnen erklärt, um einen gefährlichen Unhold, der in einem dunklen Hause lebe und fast jedem Stadtbewohner im Laufe seines Lebens schon einmal schrecklich zugesetzt habe. Von Gestalt sei er halb menschlich, halb tierisch, insofern er einem mannshohen, schwanzlosen Saurier gliche, der auf zwei Beinen gehe; genaugenommen aber vereinige er gleich mehre bekannte Sagenungeheuer in sich auf einmal. Es werde daher als sehr verdienstvoll erachtet, wenn er, der König, sich diesem Drachen zum Kampf stelle; im Falle seines Sieges wäre ihm die grenzenlose Dankbarkeit aller Normal-Städter gewiß.

Wir erinnern uns der Skepsis, die der Psychiater den Schilderungen entgegenbrachte, welche der Vorsitzende ihm von den Normbrechern gab. Genau dieselbe Skepsis trug umgekehrt Terpentin der Schilderung entgegen, welche ihm von dem Psychiater gegeben wurde. "Was ist das für ein kindischer Unsinn," rief er entrüstet, "den ihr mir da erzählt! An Fabelwesen glaube ich schon lange nicht mehr, auch wenn ich ständig meinen Busenfreund Sirup vor mir herschiebe und gelegentlich auch mal meine eigene stabilisationsbedürftige Gestalt im Spiegel einer gläsernen Hochhausfassade erkenne. Sollte aber" - er faßte sich nachdenklich ans Kinn - "tatsächlich solch ein Original bei euch herumlaufen, so würde es das Aufsehen, welches ich vermöge meiner außerordentlichen Gesamthöhe ohnehin schon errege, umso mehr steigern, wenn ich alsbald mit ihm Verbindung aufnehme."


Inzwischen war der Geheimrat längst in der Hand, oder, wie man zu sagen pflegt, in der Behandlung des Psychiaters. Die Umstände seines Marsches bis zur Stadt liegen in einem Dunkel, welches auch das Fernrohr des Normalkomitees nicht hatte aufhellen können, denn in dem Bestreben, seine Füße zu verstecken, mußte er auch sich selbst nach Möglichkeit verborgen halten. Immerhin konnte er noch froh sein, daß der Psychiater nur wenige Straßenecken entfernt wohnte, und daß er somit nur einen halben Tag brauchte, bis er vor dessen Tür stand.

Wie wir den alten Sagenbüchern entnehmen können, kämpfte Theseus auf seinem Weg nach Athen gegen insgesamt sechs Unholde und besiegte sie mit jeweils ihren eigenen Mitteln. Damit, so meinte der Psychiater, habe er das Prinzip der Anpassung verraten, und die hierdurch eingeleitete Fehlentwicklung des Menschengeschlechts müsse durch seelische Behandlung eines jeden Bürgers korrigiert werden. Diese Behandlung sah so aus, daß der Seelenarzt selbst die sechs gefährlichen Gesellen spielte und somit den Patienten in die Rolle des Theuseus zwang, wobei dieser aber, anders als in der Sage, alle Kämpfe zu verlieren hatte. Damit galt er dann als geheilt.

Die erste der schrecklichen Gestalten war Periphetes, der die Vorübergehenden mit einer Keule erschlug. In moderner Abwandlung dieser Behandlung hatte der Psychiater ein Pendel hinter seiner Haustür aufgehängt, dessen Gewicht in einer Baggerkugel bestand, wie sie die Abrißunternehmen benutzen; nur daß sie hier mit Gummi gepolstert war. Da der Hausflur abgedunkelt und ein Lichtschalter nicht vorhanden war, konnte der Eintretende die unentwegt vor- und zurückschwingende Kugel meist nicht erkennen. Dadurch wurde er vor den Kopf gestoßen und niedergeworfen. Der Psychiater mochte es nämlich nicht, wenn man die erste Begegnung mit ihm in allzu lässiger Haltung absolvierte; so aber konnte er dem Patienten auf der Kartei seiner Anpassungs-Fortschritte gleich einen Pluspunkt gutschreiben.

Kaum hatte der Geheimrat nun die Tür geöffnet, klatschten seine Füße, die er vorher hatte hochrollen müssen, ihrer ganzen Länge nach auf den Steinfliesenboden des Hausflurs, sodaß es das Treppenhaus auf- und abschallte. Erschrocken und peinlich berührt durch seinen selbstverschuldeten Lärm hielt Spitzel inne anstatt weiterzugehen; der Psychiater jedoch, ebenfalls erschrocken, eilte die Treppe hinab und zur Haustür hin, stolperte aber sogleich über die langen Füße und torkelte vorwärts, bis ihn unerwartet das Pendel an der Stirn traf und hintenüber warf. Spitzel dagegen, nunmehr sehr vorsichtig geworden, kam unbeschadet an der Kugel vorbei.

"Ich werde dir nun", sagte der Angeschlagene, nachdem er sich mühsam erhoben hatte, "nicht nur keinen Pluspunkt gutschreiben, sondern einen roten Minuspunkt an seine Stelle setzen. Denn dein Verhalten zeugt nicht im Mindesten von Anpassung, im Gegenteil."

Dann bedeutete er dem Geheimrat, mit ihm die Treppe hinaufzusteigen. Als sie an einem schmalen Fenster vorbeikamen und durch das staubige Glas ein erster Lichtschein auf den seltsamen Gastgeber fiel, erkannte Spitzel mit Schaudern, daß er ein beinahe tierisches Wesen neben sich hatte, welches weitgehend einem schwanzlosen Saurier glich.

An dieser Stelle muß erläuternd eingefügt werden, daß der Psychiater nicht nur von Anfang an, wie man zu sagen pflegt, ein dickes Fell gehabt hatte, sondern daß seine Haut im Laufe der Zeit immer dicker geworden war, bis sie sich schließlich vollständig in ein Kleid von Hornplatten umgebildet und ihrem Träger damit das Aussehen einer aufrecht gehenden Panzerechse verliehen hatte. Aus diesem Grunde trug er, in seinem Hause jedenfalls, auch keine weiteren Kleider. Wenn wir nun nach den Ursachen dieser Entwicklung fragen, so kommt als Erklärung nur der Umstand in Betracht, daß der Psychiater die Patienten auf der Couch zwar reden ließ, ihnen aber in Wirklichkeit gar nicht zuhörte; denn er gestand ihnen ja nicht die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, sondern nur die Anpassung an die Stadtnorm zu. Dagegen aber, daß die Patienten nun zusehends unglücklicher wurden und immer mehr klagten, schützte sich der Unhold damit, daß er seine Panzerung fortschreitend dicker werden ließ, bis schließlich nichts Seelisches mehr, sondern nur noch leere Worthülsen ihn erreichten.

Es versteht sich, daß der Geheimrat, der an sich schon sehr ängstlich war, nach dieser Erkenntnis sich sogleich Gedanken machte, wie er - möglichst unbemerkt - entkommen könne. Schon nach den ersten Versuchen zeigte sich aber, daß dies unmöglich war, denn sobald er sich anschickte, kehrt zu machen, trat ihm das Schildplattenungeheuer sofort auf die Füße. Dagegen half auch nicht, daß Spitzel einige Schritte zurückblieb, um sich dem Blickfeld seines Behandlers zu entziehen. Seine ungewöhnlich langen Füßen waren dem Psychiater nämlich immer um einige Meter voraus, und sobald sich daran geringfügig etwas änderte, wußte das Plattenmonster sogleich wieder die richtigen Verhältnisse herzustellen. So blieb Spitzel nicht Anderes übrig, als dem Unhold, dessen Schildplatten mit jedem Schritt rasselten und knirschten, das ganze Treppenhaus hinauf bis in den fünften Stock, das heißt bis ins Dachgeschoß zu folgen.

Dort nämlich pflegte der Psychiater seine Patienten zu zwingen, die Begegnung mit dem zweiten Räuber, welcher der Sage nach dem Theseus auflauerte, durchzuarbeiten. Dieser, sein Name war Sinis oder Pityokamptes, der Fichtenbeuger, band die Fremden an zwei heruntergebeugten Fichten fest und ließ sie beim Zurückschnellen der Bäume zerreißen, bis er durch Theseus selbst auf diese Weise umkam.

Zur Neuinszenierung dieser Methode hatte der Psychiater am Wipfel einer haushohen Fichte, die im Garten stand, einen starken Strang binden lassen, dann den Wipfel per Seilwinde bis ans offene Fenster des Dachgeschosses herangezogen und schließlich den Strang fest um einen Zapfen gewickelt. Der Zapfen jedoch war seinerseits mit einem Fußschalter verbunden, auf dessen Betätigung das Seil sich löste und mit der Fichte in den Garten zurückschnellte.

Der Psychiater erklärte nun dem Geheimrat, was er zu tun habe, doch da dieser in seiner Verschüchterung nicht begriff, ging er daran, es ihm selber vorzuführen. "Hier habe ich ein Seil," sagte er, "das mit einem Zapfen gesichert ist. Ich schlinge es jetzt fest um mein eines Handgelenk. Mehr brauche ich nicht zu tun. Diese Übung dient der Anpassung und ist darum sehr zu empfehlen. Hast du soweit alles verstanden?" - "Ja", antwortete Spitzel schüchtern. - "Dann komm her und mach es selbst", sagte der Unhold.

Natürlich war es unklug von ihm, daß er im Zimmer nicht mehr auf Spitzels unmäßig lange Füße achtete. Denn noch ehe er sich die Seil-Enden wieder abgeworfen hatte, trat Spitzel, der bis dahin ängstlich abseits gestanden hatte, nach vorn, wobei er, ohne es zu wollen, gleich mit dem ersten Schritt den Fußhebel betätigte.

Die Folge war, daß die zurückschnellende Fichte den Psychiater durchs Fenster in den Luftraum über den Garten riß, während er durch das andere Seil mit dem Fenster verbunden blieb. Nun aber war in der Seilwinde ein Federwerk eingebaut, welches das Seil wie ein Gummiband straff hielt. Dadurch schwang auch die Fichte noch eine ganze Weile hin und her, und mit ihm der psychiatrische Saurier, wobei er durch die wechselnde Seilspannung zusätzlich auf- und niedergeworfen wurde. Als sich die Schwingungen beruhigt hatten, befand er sich in schwindelnder Höhe genau zwischen seinem Haus und der fast kahlen Fichte. Das war ihm sehr unangenehm. Hätte er aber eines der Seile losgelassen, so wäre er entweder gegen diese oder gegen jenes geprallt, was ihm in Anbetracht seines enorm harten Panzers zwar nicht allzuviel ausgemacht, ihn dafür aber vor ein anderes Problem gestellt hätte, nämlich, wie er die Fassade hoch- bzw. die kahle Fichte hinabzuklettern habe. Denn er war sportlich sehr ungeübt, das sei an dieser Stelle angefügt.

So blieb ihm nichts Anders übrig, als den Geheimrat zu bitten, er möge die Winde drehen und ihn auf diese Weise wieder ins Zimmer zu ziehn. Spitzel, der durch das seltsame Geschehen völlig verwirrt war, ging auf die Bitte ein. Wiewohl er es nicht leicht hatte, die Trommel gegen den Widerstand der sich sträubenden Fichte zu drehen, hatte es der Schildplattenpsychiater noch weitaus schwerer, denn er mußte beide Seile mit bloßen Händen halten und sein eigenes Gewicht einschließlich Panzer noch dazu. So mag es nicht wundernehmen, daß, als er endlich wieder in der Dachkammer stand, seine Arme deutlich länger, aber auch dünner waren als zuvor.

"Ich werde dir nun", sagte er, nachdem er, bedingt durch den Höhenschwindel, eine Weile herumgetorkelt war, "einen zweiten Minuspunkt aufschreiben. Denn so wie du hat sich noch kein Patient verhalten; somit hast du deine Fehlanpassung aufs Neue bewiesen. Doch hüte dich", fügte er drohend hinzu. "Nur wenn jemand sechs Pluspunkte zusammenhat, kann ich ihn als geheilt entlassen. Vier kannst du jetzt allenfalls noch erwerben, wobei aber nach Abzug der beiden Minuspunkte nur noch zwei übrigbleiben. Solltest du jedoch keinen einzigen Pluspunkt behalten, so bedeutet das für dich Zwangsverwahrung wegen Unheilbarkeit."

Darauf begann er sogleich mit seiner nächsten Behandlung. Das dritte Ungeheuer nämlich, dessen Theseus sich seinerzeit erfolgreich zu wehren wußte, war die krommyonische Sau, ein wildes, gefährliches Tier aus dem Walde. Zur nachträglichen Durcharbeitung dieser unheimlichen Begegnung pflegte der Psychiater die Patienten für eine halbe Stunde in das Schlafzimmer seiner Gemahlin einzusperren, die ihn wegen seines Hornpanzers und die er aus vergleichbaren Gründen nicht leiden konnte. Hatte er dagegen eine Frau zu behandeln, so nahm er sie in sein eigenes Bett, was im Ergebnis auf das Gleiche hinauslief.

Getrieben von wilder Begierde kam die Gemahlin in das Schlafzimmer geschossen und wollte sich auf den Geheimrat stürzen; doch in letzter Sekunde sah sie dessen lange Füße und schrie: "Nein! Noch so ein Monster wie meinen Mann, das halte ich nicht aus!" - Vor Schreck fiel Spitzel hintenüber. Sofort darauf aber federten seine Füße, die er zuvor, um lautes Klatschen beim Öffnen der Tür zu vermeiden, hochgerollt hatte, nach vorn und stießen nicht nur die Frau, sondern auch ihren Gemahl ins Schlafzimmer hinein. Unmittelbar darauf wurde durch das Nachfedern der Füße auch noch die Tür zugeschlagen.

Die Schreie, die nun aus dem Zimmer drangen, waren so entsetzlich und machten den Geheimrat zugleich so neugierig, daß er alle Gedanken an eine Flucht, die ja jetzt sehr gut möglich gewesen wäre, fallenließ und sich stattdessen vors Schlüsselloch stellte. Zu seinem Unglück war das Zimmer aber völlig abgedunkelt, so daß er sich auf die Auswertung der Schreie beschränken mußte. Dabei konnte er feststellen, daß für die ersten fünf Minuten beide um Hilfe riefen, danach aber nur noch der Mann. Natürlich wäre der Psychiater viel lieber geflüchtet, doch die Tür enthielt ein Zeitschloß, sodaß sie, von innen jedenfalls, nur jede halbe Stunde geöffnet werden konnte. Der Eingesperrte mußte daher in jedem Falle mit der Neuauflage der krommyonischen Sau zubringen, auch wenn ihm das alles Andere als zuträglich war.

Nachdem der Vergewaltigte wankend das Schlafzimmer verlassen hatte, sagte er: "Ich muß dir jetzt den dritten Minuspunkt aufschreiben, denn auch diesmal zeugt dein Verhalten eindeutig von Fehlanpassung. Übrigens", fügte er frohlockend hinzu, "ist dir die Zwangseinweisung in die Verwahranstalt jetzt sicher."

Dessen ungeachtet begann er sogleich mit der vierten Behandlung, denn er wollte sich von Spitzel erst trennen, nachdem er ihm wenigstens einmal seine Überlegenheit bewiesen hatte. Der vierte Wegelagerer nun, den Theseus der Sage nach beseitigte, war Skiron, der sich von allen Vorübergehenden die Füße waschen ließ, um seine Wohltäter dann mit einem Tritt ins Meer zu stoßen. Um auch diesen Teil des Theseuskomplexes der Aufarbeitung zu erschließen, hatte der Psychiater eine Außentoilette im Treppenhaus umgebaut zu einer Waschkabine. Bevor nun die Patienten zuletzt das Analysezimmer betreten durften, welches eine Treppe tiefer lag, mußten sie ihm das nötige Honorar auf die Weise begleichen, daß sie ihn in besagter Kabine die Füße wuschen; als Quittung dafür wurden sie per Fußtritt die Stufen hinuntergestoßen, wodurch sie auch gleich vor der richtigen Tür landeten.

Nun aber hatte der Psychiater selbstverständlich auch eine allgemeinmedizinische Ausbildung, und so interessierte es ihn nicht wenig, ob Spitzel tatsächlich so lange Füße habe oder ob nicht vielmehr seine Schuhe etwa mit Gummistreifen oder sonst einem elastischen Material ausgefüllt seien. Also bat er ihn, die Schuhe auszuziehn und half ihm noch dabei, das heißt, er löste die Schnürsenkel des einen Schuhes, während Spitzel die des andere aufknüpfte.

In diesem Zusammenhang muß erwähnt werden, daß der Geheimrat wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht sehr oft dazu kam, sich die Füße zu waschen, trotzdem aber wie jeder andere Mensch schwitzte. So wird es uns nicht weiter wundern, wenn wir hören, daß der Unhold sogleich das Füßewaschen für ihn erledigte, und zwar in eigenem Interesse; denn er war, das müssen wir ihm trotz Allem zugutehalten, ein durchaus sauberkeitsliebender Zeitgenosse.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit dieser Prozedur fertig waren, denn allein das Lösen und Wiederzuknüpfen der Schnürsenkel nahm fast eine Dreiviertelstunde in Anspruch. Vor lauter Nervosität begannen Spitzels Füße bereits furchtbar zu zittern. Wie er nun von dem ehemaligen Klosettsitz in der Waschkabine, wo ansonsten der Schildplattenpsychiater Platz zu nehmen pflegte, sich gerade erheben wollte, passierte ihm zu seinem Entsetzen ein großes Mißgeschick: Der Psychiater erhielt durch die auf- und abfedernden Füße einen derartigen Tritt gegen sein Hinterteil, daß er die Treppe hinunterfiel und vor der Tür seines eigenen Behandlungszimmers landete.

"Aufgrund deines auch diesmal extrem unangepaßten Verhaltens", sagte er, nachdem er sich einigemale im Kreise gedreht hatte, "werde ich dir jetzt den vierten Minuspunkt aufschreiben. Nur muß ich", fügte er mit bedenklicher Miene hinzu, "mich langsam selber vorsehen, denn wenn du 6 Minuspunkte gesammelt hast, dann werde ich aus meinem Amt entlassen."

Das fünfte Ungeheuer nun, mit dem Theseus sich der Überlieferung nach herumzuschlagen hatte, trug den Namen Kerkyon; dieser tötete die Wanderer im Ringkampf. In getreuer Nachahmung dieser Auseinandersetzung pflegte der Psychiater sich auf den durch den Treppensturz meist ohnehin schon lädierten Patienten zu werfen. Obwohl er aber, wie schon erwähnt, an sich nicht gerade sportlich war, blieb den Gegnern trotzdem selten eine Chance, weil der Hornpanzer gleich einem Fräsbohrer mit vielen harten und spitzen Wucherungen besetzt war, sodaß man ihn kaum anfassen konnte, ohne heftig gepiekt zu werden.

Doch der Kampf zwischen ihm und dem Geheimrat währte nicht lange. Wie wir wissen, hatte dessen Nervosität bereits während des vergangenen Geschehens einen Grad erreicht, welcher ihm kaum mehr gestattete, seine Füße, an denen die nervösen Erscheinungen stets zuerst sich einzustellen pflegten, unter Kontrolle zu halten. All seine Mißgeschicke waren ihm ja auch furchtbar peinlich, das müssen wir uns stets vor Augen halten. Die Folge war, daß er einen seiner Füße mit der rechten Hand verwechselte und mehrmals wie den Fangarm eines Riesenkraken um den Hals des Schildplattenungeheuers herumschlang. Dieser, dessen Blick durch die Panzerung etwas eingeschränkt war, bemerkte die Verwechslung nicht gleich und zog kräftig daran, um den bekannten Judo-Schulterwurf Seoi-nage anzuwenden; unmittelbar nach dem Versuch jedoch sank er ohnmächtig zu Boden.

"Jetzt werde ich dir", japste er, nachdem er aus seiner Ohnmacht erwacht war, "den zweitletzten aller möglichen Minuspunkte aufschreiben. Es besteht zu meinem Glück aber", fügte der beinahe Strangulierte aufatmend hinzu, "so gut wie keine Chance, daß du bei der nun folgenden und abschließenden Anpassungsübung gegen mich gewinnen wirst - höchstens, daß du nicht verlierst und damit keinen Pluspunkt gutgeschrieben kriegst."

Wir müssen diese Aussage des Psychiaters sehr ernst nehmen, denn der sechste und letzte Unhold, den Theseus auf seinem Weg nach Athen zur Strecke brachte, war niemand anders als Prokrustes selbst, der die Wanderer je nach Körpergröße gewaltsam streckte beziehungsweise stutzte, um sie der Länge seines Normal-Bettes anzupassen. Freilich ließ sich das Verfahren, wie es der Panzermensch nunmehr zur Anwendung brachte, nicht mehr mit demjenigen vergleichen, welches, in Ermangelung von Zivilisation und Technik, dem Prokrustes geboten war. Vielmehr pflegte der Psychiater seine Patienten auf eine sehr bequeme, moderne Couch zu legen und, nachdem sie lange genug über ihre unerfüllten Selbstverwirklichungswünsche geredet und damit ihre Unangepaßtheit bewiesen hatten, heimlich festzuschnallen und darauf einer Serie von Elektroschocks zu unterziehen.

Da Spitzel nun trotz seiner unverhofften Erfolge äußerst nervös geworden war und nicht mehr ein noch aus wußte, was jedoch zu seiner Flucht gerade notwendig gewesen wäre, folgte er der scheinbar freundlichen Aufforderung, legte sich nieder und begann zu erzählen. "Eigentlich", sagte er, "bin ich zu dir gekommen, weil ich sehr unter mangelndem Selbsgefühl leide. Anderseits werde ich in jüngster Zeit immer häufiger von der Vorstellung heimgesucht, daß meine langen Füße auch etwas Positives bedeuten könnten. Ich denke dann an meinen König Terpentin, der durch seinen übermäßig hohen und spitzen Hut auch so disproportioniert ist, trotzdem aber sich nicht daran stört. Im Gegenteil, er sieht darin ein Zeichen seiner Königswürde und freut sich, daß der Hut immer höher wird, obwohl er schon längst künstlich stabilisiert werden muß. Bestimmt wäre auch ich glücklicher, wenn ich eine Einstellung hätte wie er."

"Das ist ja ein gräßliches Geschwätz", entgegnete der Psychiater entrüstet. "Sei froh, daß ich dergleichen durch meinen Beruf gewohnt bin und demzufolge einen enorm dicken Hornpanzer bekommen habe, sonst würde ich jetzt sofort zu einer Axt greifen und deine Füße abhacken, bist du nur noch genauso lang bist wie die Couch, auf der du liegst. Denn alles, was über oder unter der Stadtnorm liegt, empfinde ich als einen persönlichen Angriff gegen mich selbst. Erzähl mir lieber von deinen Schlüsselloch-Beobachtungen, die du als Voyör gemacht hast."

Der Geheimrat folgte dieser Anweisung zunächst nur zögernd; doch als er merkte, daß auch der Normwächter hinter seinem Kopf viel Spaß an den Schilderungen hatte, begann er zusehends aufzutauen und munter drauflos zu erzählen. Plötzlich merkte er, daß er währenddessen angeschnallt worden war. - "Laß dich nicht irritieren und erzähl weiter", sagte mit leiser, hämischer Stimme der Unhold. "Bis ich den Strom einschalte und der Schock deine Füße auf das städtische Normalmaß zurechtstutzen wird, können wir uns noch einige Stunden gemeinsam amüsieren." - "Ich habe aber Angst", entgegnete Spitzel. - "Macht nichts", war die Antwort. "Das wird unserer Unterhaltung eine pikante Note verleihen. Erzähl mir jetzt Alles, was dir so in den Sinn kommt. Und immer schön entspannt bleiben!"

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Erschwerend zu der Angst, die der Geheimrat jetzt auszustehen hatte, kam nämlich noch ein besonderer Umstand hinzu, welcher in der körperlichen Beschaffenheit des Psychiaters begründet lag. Während nämlich sein Hornpanzer mit jeder Widerstandbezeugung seiner Patienten dicker wurde, was übrigens stets gequantelt, das heißt in kleinen Sprüngen vor sich ging, pflegte er sich, um einer gänzlichen Bewegungsunfähigkeit und Invalidität seines Trägers entgegenzuwirken, zu bestimmten Zeiten auch wieder bröckchenweise abzustoßen. Aus diesem Grunde waren, nebenbei gesagt, alle Zimmerböden und auch die Treppe des Hauses mit einer Art feinkörnigem Sand belegt. Bezeichnenderweise nun waren die Augenblicke der Abstoßung gerade diejenigen, bei denen der Unhold einer offensichtlichen Ohnmacht seiner Opfer zufolge Anlaß hatte, sich in sadistischer Genugtuung zu ergehen; insofern waren sie Bekundungen des Wohlbehagens.

Im Einzelnen spielte sich der Vorgang dergestalt ab, daß, sobald eine schadenfreudige Erregung sein Gemüt erfüllte, sofort der ganze Körper, vor Allem aber das Gesicht, sich mit einem unregelmäßigem Gitter von zunächst haarfeinen Sprüngen überzog, die sich rasch weiter aufteilten. Sobald nun eine Bewegung, etwa ein breites, hämisches Grinsen, die Oberfläche in Spannung versetzte, wurde die erste Schicht des somit aufgeteilten Panzers inform von sehr verschieden großen, stets aber scharfkantigen Platten abgesprengt.

Obwohl ihre Herkunft Hornmasse war, welche der Körper gebildet hatte, waren sie doch im Ergebnis so hart wie Granit, und vor Allem wirbelte der Vorgang viel Staub auf - ganz zu schweigen von den explosionsartigen Geräuschen, die er hervorrief. Dieser Staub jedoch war es, welcher die Patienten, abgesehen von den Elektroschocks, am meisten quälte; denn nur die gröberen Bestandteile schlugen sich nieder, während der Rest in dichten, dräuenden Qualmwolken über sie kam, weiter in ihre Atemwege drang und dort die heftigsten Reizungen verursachte, so daß sie vor lauter Husten kaum noch zu Wort kamen.

Damit haben wir aber noch längst nicht alles erwähnt, was die Abstoßung des Panzers an Unannehmlichkeiten begleitete. Da dieser im gewöhnlichen Falle nämlich der Isolation diente, das heißt seinen Träger gegen die Patienten unempfindlich machte, zumal wenn diese ihn mit ihren Sorgen und unerfüllten Wünschen nach Selbstentfaltung bedrängten, pflegte er im umgekehrten Falle, daß heißt wenn der Normwächter sich ihnen überlegte glaubte, Elektrizität abzugeben, so wie dies, wenn auch aus anderen Beweggründen, gewisse Fische tun, wie zum Beispiel die Zitterwelse, Zitterrochen und Zitteraale. Während diese ihre Energie aber aus lamellösen Organen beziehen und Spannungen von kaum mehr als 800 Volt erzeugen, gewann der Psychiater seinen Strom aus stoßartigen Deformationen kristalliner Strukturen, das heißt aufgrund des piezoelektrischen Effekts, und brachte es folglich auf Impulsspitzen von einigen zehntausend Volt.

Wir dürfen zwar nicht behaupten, daß diese lebensgefährlich gewesen seien, denn ihre Stromstärke war, wie bei allen diesen Erscheinungen, sehr gering; lediglich, daß der psychiatrische Panzer im Falle des Wohlbehagens ständig von einem wandernden Geflecht kleiner blauer Funken überzogen war; ferner, daß diese durch ihr Knistern und Knattern die Unterhaltung zusätzlich störten; und schließlich, daß sie überdies imstande gewesen wären, jedes Haus mit halbwegs undichter Gasleitung in die Luft zu jagen, das sollte uns eine Erwähnung wert sein.

Vor Allem aber verursachten die Funken im Behandlungszimmer eine sehr gewittrige Atmosphäre nicht nur durch die Bildung von immer beißenderen Ozon, sondern auch insoferne, als sie die Neigung hatten, auf alle möglichen Gegenstände überzuspringen und den Geheimrat folglich immer wieder zusammenzucken ließen, weil er sich elektrisiert fühlte. "Wenn das so weitergeht," frohlockte still für sich der Psychiater, "dann werde ich vielleicht gar nicht mehr genötigt sein, den schweren Schalter an meinem Hochspannungs-Impulstransformator zu betätigen."