Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

1. Kapitel: Wie Terpentin, da das Höhenwachstum seines spitzen, roten Hutes nicht mehr aufzuhalten war, beschloß, König zu werden.

Terpentin war ein Schüler, der, bedingt durch seine ungewöhnliche Selbstbezogenheit, nur ein Bedürfnis hatte: Aufsehen zu erregen um jeden Preis. Kaum hatte er seine erste Versetzung mit Ach und Krach bestanden, erschien er vor seinem neuen Klassenlehrer in einer Aufmachung des Triumphes: in einem langen schwarzen Mantel und mit einem leuchtend roten, sehr spitzen und ca. 66 cm hohen Hut. Es war seine Schultüte, die er, gefüllt mit Süßigkeiten, zu seiner Einschulung bekommen und eigens für seinen jetzigen Auftritt aufbewahrt hatte. An ihrer Frontseite hatte er in aufsteigender Reihe große, bunte Knöpfe angenäht; einer von ihnen stellte sich nachträglich als ein reflektierender Fahrradrückstrahler, ein sogenanntes Katzenauge heraus, das er versehentlich mit einem Knopf verwechselt hatte.

Nachdem seine Mitschüler ihn gehörig ausgelacht hatten, sagte der Lehrer: "Terpentin, nimm sofort diesen komischen Kegel von deinem Kopf ! Du wirst dadurch doch nicht größer, als du bist." - "Ich werde diesen Hut nie mehr abnehmen," widersprach Terpentin, "und größer werde ich damit sehr wohl !"

Er sollte recht behalten.

Zwar wuchs sein Körper auch in Zukunft nicht schneller als der andrer Kinder; doch nach wenigen Stunden schon fiel den meisten von ihnen auf, daß sein Hut sich verändert hatte. Er war nicht breiter, wohl aber deutlich höher und somit auch spitzer geworden. Am nächsten Morgen war sein Hut schon so groß wie er selbst, und als er mittags die Schule verlassen wollte, konnte er den Türrahmen erst passieren, nachdem er ein Stück in die Knie gegangen war. So mag es nicht wundernehmen, daß Terpentin am übernächsten Morgen bereits wie ein Alligator oder wie ein Schwertfisch in die Klasse getragen werden mußte, wenn man ihn nicht als einzigen Schüler auf dem Hof stehen lassen wollte.

Selbstverständlich erregte diese Veränderung gewaltiges Aufsehen, zumal auch nicht abzusehen war, ob und wann das Wachstum des Hutes aufzuhalten sein würde und welche Folgen sich aus dieser unerklärlichen Entwicklung ergeben könnten. Zwar hatte man schon gleich zu Beginn der Entdeckung dieses Phänomens versucht, den Hut von seinem Träger zu trennen, hatte dabei aber feststellen müssen, daß beide inzwischen eine untrennbare, organische Einheit bildeten. In großer Sorge wandten sich Terpentins Eltern und Lehrer an die Stadtverwaltung mit der Bitte um sofortige Hilfe. Nach über zwei Wochen - der Hut samt Träger war mittlerweile so hoch wie ein kleineres Einfamilienhaus - erhielten die Ratsuchenden ein amtliches Schreiben, das auf eine soeben herausgegebene Stadtverordnung hinwies, wonach in der Öffentlichkeit das Tragen von Hüten, die höher als 8,35 m sind, verboten sei, vorausgesetzt, daß die Gesamthöhe des Hutträgers von 9,10 m überschritten werde. Nachdem man nun Terpentin samt Aufsatz vermessen hatte und feststellen mußte, daß seine Gesamthöhe zum jetzigen Zeitpunkt zwar nur 8,94 m betrug, irgendwann aber während der nächsten Stunden die Grenze des Zulässigen überschritten haben werde, geriet man aufs Neue in große Sorge.

Inzwischen traf ein berühmter und sehr kluger Professor ein, den man vor Tagen schon beauftragt hatte, dem Problem des Hutwachstums mit den Methoden der Wissenschaft zu Leibe zu rücken. Dieser Professor war in der Tat so klug, daß er es fertigbrachte, das Wachstum zwar nicht völlig anzuhalten, jedoch die Wachstumsrate einer mathematischen Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen, derzufolge der Hut immer langsamer an Höhe zunahm, bis eine Zunahme irgendwann nicht oder kaum mehr erkennbar sein würde. Und zwar entsprach die Wachstumsrate jetzt einer sogenannten harmonischen Reihe, wonach der Hut bis morgen zwar noch um 1/2 höher würde, dann aber mit jedem weiteren Tag nur noch um 1/3, 1/4, 1/5 , und so fort. Allerdings kam dabei noch hinzu, daß die Gestalt des Hutes immer weiter von der Form eines idealen Kegels abwich und dafür sich der eines Rotationshyperboloides annäherte, weil sein Wachstum von nun an sich vor allem auf die oberen Partien konzentrierte. Weil dadurch die Begrenzungsfläche des Körpers sich zunehmend nach innen bog, nahm folglich auch die Spitze noch schneller an Spitzheit zu, als dies durch das Höhenwachstum an sich schon notwendig war. Indessen waren die Formeln zur exakten Berechnung dieses Prozesses derart kompliziert, daß selbst der Professor sie trotz seiner außerordentlichen Klugheit und seiner vielen Schmierzettel bald nicht mehr aufsagen konnte.

Da nun der Hut bis morgen um die gleiche Uhrzeit seine Höhe vereinskommafünffacht haben mußte, um dieser Gesetzmäßigkeit Genüge zu tun, mußte er zunächst also noch viel schneller wachsen, als er es ohne des Professors Zutun bis dahin getan haben würde, und binnen kürzester Frist war die Gesamthöhe von 9,10 m überschritten. Da packten Terpentins Eltern und Lehrer ihren Schützling an den Füßen und am Hut, trugen ihn in die Kirche und stellten ihn unter dem Kirchturm wieder auf die Beine.

Der Pfarrer war von dem Besuch zunächst sehr angetan. "Das aufwärtsgerichtete, mit anderen Worten, das nach Gott orientierte Streben", sagte er, "war der Kirche und ihrer Bautechnik schon immer zueigen. In diesem Sinne paßt niemand besser in unseren Turmbau als dieser eigenwillige junge Mensch." Freundlich beugte er sich zu Terpentin und fragte: "Was willst du hier, mein Spitzbub ?" - "Das Besondre," antwortete Terpentin, "Aufsehen erregen um jeden Preis !"

Tatsächlich sah der Pfarrer zunächst einmal nach oben, bis sein Auge die Spitze des Hutes gefunden hatte; dann aber wurde sein Blick sehr bedenklich und er sagte zu den Umstehenden: "Es ist zu erwarten, daß der Hut in absehbarer, ja berechenbarer Zeit die Spitze des Kirchturms von unten her durchstoßen und dann dem Wetterhahn in den Bauch pieksen wird. Das kann ich nicht verantworten. Außerdem muß ich davon ausgehn, daß Terpentin nie wieder aus der Kirche zu entfernen sein wird, wenn seine Gesamthöhe die Höhe - ja schon die halbe Höhe - des Kirchturms erreicht haben wird."

So blieb Terpentin nichts übrig, als die Stadt zu verlassen, denn weder seine Eltern noch seine Lehrer waren nunmehr imstande, ihm zu helfen.


Terpentin ging in einen Fichtenwald und blieb dort, bis er erwachsen war, was ca. 10-15 Jahre in Anspruch nahm. Sein spitzer roter Hut hatte inzwischen eine schwindelerregende Höhe erreicht und war nicht weniger hoch als die höchsten Bäume des Waldes, nur daß ihn keine Äste und Zweige zierten. Da er nun Aufsehen erregen mußte wie nie zuvor, anderseits aber wohl keine Stadt bereit sein würde, ihn als Bürger aufzunehmen, beschloß er, König zu werden und irgendeine Stadt um ein Stück brachliegendes Land zu bitten.

Wie er jedoch den Wald verlassen wollte, mußte er feststellen, daß er wegen seiner außerordentlichen Gesamthöhe dem Wind, der hier ungehindert von Bäumen übers Land wehte, nicht standhalten konnte. Zwar konnte der Hut wegen seiner beträchtlichen Elastizität und Flexibilität nicht umknicken; dafür aber geriet er beim ersten schwachen Luftzug sofort in Pendelschwingungen, die so rasch an Stärke zunahmen, daß Terpentin unverhofft zu Boden geschleudert wurde. Als er sich aufrichten wollte und nach sehr großer Anstrengung schon wieder auf den Füßen stand, geriet der Hut durch diese nunmehr von unten her erfolgende Bewegung in derart starke Transversal-, Longitudinal- und sogar Torsionsschwingungen, daß alle Versuche Terpentins, seine Vertikale durch schnelles Vor- und Zurücklaufen, gegenläufiges Im-Kreise-drehen und lautes Schreien wiederzugewinnen und zu stabilisieren, fehlgeschlagen wären, hätte sich nicht zufällig die Spitze im Geäst eines sehr nahe stehenden hohen Baumes verfangen. Durch geschicktes und vorsichtiges Schlenkern gelang es ihm zwar, sich zu befreien und wieder unbeschadet in den Wald zu gelangen. Doch blieb ihm vorläufig nichts übrig, als die Suche nach einem Königreich zurückzustellen.

Eines Tages kamen ihm drei kräftige Männer mit Äxten entgegen. Sobald sie ihn sahen, brachen sie in Gelächter aus. - "Wohin geht ihr", fragte Terpentin. - "Wir sind auf dem Weg zum Bäumefällen", antworteten sie. Da nahm Terpentin sie beiseite und machte ein sehr finsteres und geheimnisvolles Gesicht. "Der König des Waldes", raunte er, "wird nicht mehr lange gute Miene machen, wenn ihr ihm Baum auf Baum umhaut. Ich werde mir ein Königreich außerhalb des Waldes suchen und heute in eine Stadt gehn. Wenn ihr mitkommt, werde ich euch zu meinen Ministern machen." - "Was haben wir davon", fragten sie. - "Wir werden Aufsehen erregen wie noch niemals jemand zuvor, und zwar mit absoluter Gewißheit", erklärte Terpentin. "Das war schon immer das Ziel meines Lebens. Eure Aufgabe besteht nur darin, daß ihr das aufsehenerregende Objekt, nämlich meinen Hut, mit Hilfe dreier Seile, die ihr am oberen Drittel befestigt, so stabilisiert, daß er auf keinen Fall zu schwingen und zu schwanken anfangen kann. Da nämlich mein Hut und ich selbst eine untrennbare, organische Einheit bilden, würde dies zur Folge haben, daß wir zu Boden fielen. Und wie schwer ein Objekt von derartiger Höhe aufzurichten ist, das wißt ihr ja selbst."

Die drei Männer waren einverstanden. Einer nach dem andern befestigte ein Seil am oberen Drittel des Hutes; dann hielt jeder das seine fest in den Händen, und schließlich achteten sie darauf, daß sie von König Terpentin genügend Abstand hielten und untereinander stets die Eckpunkte eines exakt gleichseitigen Dreiecks bildeten. So begleiteten sie ihn als Stabilisationsminister auf der Suche nach einem Königreich.


Bald hatten sie die nächste Stadt erreicht. In allen Straßen, die sie passierten, brachen die Leute teils in Gelächter, teils in Rufe des Erstaunens und teils in Schreie des Entsetzens aus. Auf jeden Fall aber, das muß gesagt werden, erregten sie Aufsehen wie niemals jemand zuvor, denn die Leute waren genötigt, die Köpfe zu heben, um die Spitze von König Terpentins Hut abzusehen.

Obwohl nun bereits Feierabend war, steckte der Bürgermeister trotzdem seinen Kopf zum Rathausfenster hinaus und fragte sie, was sie wollten. - "Wir wollen Rat," sagte König Terpentin, nachdem er sich und seine Stabilisationsminister gebührend vorgestellt hatte, "und vor allem Tat. Wir brauchen nämlich ein Königreich." - "Wie kommt ihr zu dieser unverschämten Anmaßung," erwiderte der Bürgermeister, "nicht einmal ich selbst hatte bis vor kurzem ein Privatgrundstück." - "Das ist klar," entgegnete Terpentin höflich, "du erregst ja auch zufolge deiner wesentlich geringeren Gesamthöhe viel weniger Aufsehen als ich. Wiewohl ich allerdings zugestehn möchte, daß der Hut, welcher mich so hoch macht, sehr auseinandergezogen erscheint und - wie du siehst - künstlich stabilisiert werden muß." Ja, so bescheiden trat der König vor dem verständnislosen Bürgermeister auf, daß er nicht nur seine Ansprüche, sondern auch seine Schwächen sofort zugab. - "Also, ein paar Butterbrötchen kann ich euch mit auf die Abreise geben", sagte der Bürgermeister, bevor er grinsend das Fenster schloß. "Damit sind unsere Kapazitäten dann aber auch erschöpft."

Da verfinsterte sich König Terpentins Gesicht entsetzlich. "Wir werden uns von diesem Bürokraten nicht abwimmeln lassen", sagte er zu seinen Stabilisationsministern. "Um unsere Freiheit brauchen wir im Übrigen sowieso nicht zu fürchten, denn da mein Hut und ich eine untrennbare, organische Einheit bilden, gibt es - außer vielleicht ingestalt eines sehr hohen Kirchturms - kein Gefängnis, in das man uns stecken könnte. Ich werde mich jetzt der ganzen unermeßlichen Länge nach auf die Straße legen und somit die Ausfahrt vom Rathaus versperren. Und ich werde nicht eher aufstehn, als bis uns dieser Dreikäsehoch einen Grundstücksbrief aus dem Fenster gereicht hat. Nur müßt ihr sehr aufpassen, daß, während ich mich niederlege, mein Hut nicht wie eine ungeheure Peitsche auf die Straße und ihre Passanten niederschlägt."

So geschah es auch. König Terpentin legte sich nieder und der Bürgermeister, wiewohl er schon längst Feierabend hatte, traute sich dennoch nicht, einen Hut, der mit seinem Träger eine untrennbare, organische Einheit bildete, mit seinem Wagen zu überfahren. Also ging er wieder zurück, und nach wenigen Minuten schon ließ er den Querulanten einen Brief zukommen. "Es ist geschafft", sagte der König zu seinen Ministern. "Nun seht zu, daß ich wieder auf die Beine komme." Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn die Minister hatten noch nicht viel Amtserfahrung und waren daher einer so gewaltigen Stabilisationsaufgabe kaum gewachsen. "Jaja, so ist das, wenn man jahrelang zwischen Bäumen im Stehen geschlafen hat", sagte Terpentin, als er nach über einer Stunde des Wankens und Schwankens wieder aufrecht stand.

Nun wurde der Brief geöffnet. Dabei aber stellte sich heraus, daß er nichts enthielt als eine soeben herausgegebene und mit sofortiger Wirkung in Kraft tretende Verordnung, derzufolge in der Öffentlichkeit das Tragen von Hüten über 25 m nur dann gestattet ist, wenn in nicht weniger als 0,95 m Abstand von der Spitze ein reflektierender roter Strahler angebracht sei, vorausgesetzt, daß die derart zu kennzeichnende Spitze in ausgesprochener Weise spitz sei.

Sofort befahl Terpentin seinen Ministern, den Hut auf seine Knöpfe und das reflektierende rote Katzenauge abzusuchen. Dabei ergab sich, daß alle Knöpfe, darunter auch das Katzenauge, sich noch fast auf der gleichen Höhe befanden wie vor des Professors Eingriff. Das war eigentlich auch nicht verwunderlich, denn dieser hatte seinerzeit ja vorausberechnet, daß das zukünftige Wachstum des Hutes sich vor allem auf die jeweils oberen Partien konzentrieren würde. Der reflektierende Strahler war also auf jeden Fall zu tief angebracht und ihn jetzt in die nötige Höhe zu versetzen hätte, da dies wiederum nur in Terpentins Bodenlage möglich gewesen wäre, an die ohnehin erschöpften Stabilisationsminister schier unzumutbare Anforderungen gestellt. Außerdem war die Straße bereits derart mit Schaulustigen angefüllt, daß eine solche Maßnahme schon darum nicht mehr durchführbar war. Daß aber die Spitze des Hutes in ausgesprochener Weise spitz war, ja an Spitzheit eigentlich nichts mehr zu fürchten übrig ließ - auch dies folgte aus des Professors Eingriff -, das bedurfte ebenfalls keiner Bestätigung mehr. Also war die Verordnung gültig und es blieb dem König nichts andres übrig, als mit seinen Ministern und einigen Tüten Sozial-Margarinebrötchen die Stadt wieder zu verlassen.

Nach diesem Mißerfolg versuchten sie in andern Städten das Gleiche, doch vergebens. Da wurde Terpentin nachdenklich und er sagte vor sich hin: "So kann mein Leben nicht weitergehn. Vielleicht werde ich Erfolg haben, wenn ich mich mit einem ähnlich Gesinnten verbünde."