Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

3. Kapitel: Wie das Städtische Normalkomitee in seiner ersten von fünf Krisensitzungen beschloß, König Terpentin zu beschatten und ihm damit unfreiwillig einen Geheimrat vermittelte.

Inzwischen war der Bürgermeister, der vor Sirups Gestank und gespenstischem Leuchten geflohen war, in einer Stadt eben dieses Tales eingetroffen und hatte seinen dortigen Kollegen um Amtshilfe für sich und seine Bürger ersucht. Dieser war tatsächlich bereit, ihm zu helfen und berief sofort eine Krisensitzung ein. Er war nämlich zugleich Direktor des überregionalen Arbeitsamtes, des höchsten Gebäudes der Stadt, und somit ein mächtiger und weithin gefürchteter Mann. Äußerlich wirkte er wie ein Offizier, denn er zeigte sich gern in einer Art Uniform mit vielen bunten, blinkenden Abzeichen; empfing er aber einen Leistungsempfänger zur Arbeitsberatung, so trug er sogar einen Kampfanzug.

"Ich als Vorsitzender des Städtischen Normalkomitees", so begann er zu reden, "kann faule Zeitgenossen in meinem Umkreis nicht dulden. Denn nur Arbeit, ja, harte, unermüdliche Arbeit kann die Erhaltung unserer Stadtnorm sichern. Ich denke dabei gar nicht einmal an wirtschaftliche Notwendigkeiten. Es soll ja Leute geben, die erstaunlich bescheiden sind und notfalls von Fichtenzapfen leben oder sogar von ihren körpereigenen Abfällen, wenn man sie unter eine Käseglocke steckt. Nein, die Gefahr liegt ganz woanders: diese Leute haben zuviel Zeit. Nicht selten kommt es dann vor, daß sie anfangen, nachzudenken oder gar zu phantasieren, bis sie vor lauter Erleuchtungen schließlich die geistige Nachtruhe stören, wie dieser Sirup zum Beispiel. Das Allerschlimmste aber ist, daß diese Subjekte, die meist ohnehin schon dazu neigen, um jeden Preis Aufsehen zu erregen oder sich interessant zu machen, nun erst recht in der Lage sind, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Wirkung auf ihre und unsre Umwelt muß daher eine verheerende sein. Wir haben daraus zu folgern: Die Fäulnis ist das Grundübel unserer Zeit !"

Zur Bekräftigung schlug er mit der Faust auf den Tisch, und ein zustimmendes Raunen ging durch die Runde. "Um diesen Sirup nun amtlich erfassen und in ein geregeltes Arbeitsverhältnis überführen zu können, fuhr er fort, "müssen wir ihn zunächst einmal von seinem Beschützer und jetzigem Dienstherrn - Dienstherr in Anführungszeichen, versteht sich ! - nämlich dem König Terpentin, trennen. Da dieser sich einer solchen Maßnahme zweifellos mit allen Mitteln widersetzen wird, eine legale Handhabe gegen ihn aber für den Bereich außerhalb geschlossener Ortschaften noch nicht vorliegt, erachte ich es für unumgänglich, die Beiden vorher gründlich zu observieren. Es kann nämlich sein, daß sie noch lange zögern werden, bis sie unsere Stadtgrenze überschreiten; diesen Zeitpunkt aber müssen wir wissen, um beizeiten gewappnet zu sein. Den Auftrag zur Observation übergebe ich" - er blickte suchend in die Runde - "übergebe ich unserem bewährten Kontaktmann Spitzel."

Alle Augen richteten sich nun voller Erwartung auf einen unscheinbaren kleinen Mann, der sogleich bis hinter die Ohren errötete.


Nachdem Spitzel am nächsten Morgen sich auf den Weg gemacht hatte und nicht mehr weit entfernt war von dem Platz, da König Terpentin und seine Minister zum Tal hinabschauten, bot sich ihm die zufällige Gelegenheit, ein frisch verliebtes Pärchen in ihrem Schlafzimmer zu observieren. Um nicht entdeckt zu werden, stellte er sich auf die Fensterbank hinter den Vorhängen. Die beiden jungen Leute betraten das Zimmer, doch Spitzel traute sich nicht mehr, seine Nase durch den Spalt zu stecken. Als nun das zu observierende Geschehen deutlich vernehmbar einsetzte, wurde Spitzel von fürchterlicher Neugier geplagt; gleichzeitig wurde er sich mit Schrecken bewußt, daß seine Füße nicht vom Vorhang bedeckt waren und somit die Gefahr bestand, daß er ihretwegen jederzeit entdeckt werden könnte. Dringend wünschte er, seine Füße möchten verschwinden oder sich nach hinten umkehren; stattdessen aber begannen sie zu wachsen und sich zusehends unter die Vorhänge hindurchzuschieben. Bald wurde er mit höchster Bestürzung gewahr, wie sie sich über die Fensterbank abwinkelten und schließlich den Fußboden erreichten, von wo aus sie weiter zur Zimmermitte hinstrebten.

Indessen waren die Liebenden dermaßen mit sich selbst beschäftigt, daß sie auf die Veränderung ihres Umfeldes zunächst nicht aufmerksam wurden. Sie hätten gewiß noch lange nichts gemerkt, wäre nicht die Frau zwischendurch ins Badezimmer gegangen. Als sie zurückkam, stolperte sie über zwei parallel laufende, lattenartige Gebilde, die unter einem Sessel hervorlugten und sich langsam in Richtung auf das Bett hin verlängerten.

Nun wurde auch der Mann auf die Füße aufmerksam, und gemeinsam machten sie sich daran, deren Herkunft nachzuspüren. Zunächst verfolgten sie die Auswüchse bis hinter den Sessel und unter einen Tisch hindurch und stellten dann fest, daß sie sich unter dem Sofa verloren, welches vor dem Fenster stand. Als sie nun kräftig daran zogen, wackelte es hinter den Vorhängen, und Spitzel war entdeckt. Da schoben sie den Stoff beiseite, öffneten die Fensterflügel und gaben ihm einen Schubs. Spitzel verschwand und mit ihm seine Füße, noch ehe sie das Bett erreicht hatten. - "Der ist weg vom Fenster", sagten die Leute und schlossen die Vorhänge.


Währenddessen war König Terpentin ein gutes Stück weitermarschiert. "Wir sollten uns beeilen," sagte er zu seinen Ministern, "denn es wird unsern Erfolg begünstigen, wenn wir die Stadt erreichen, bevor man sich auf unser Kommen eingerichtet hat. Ich denke ohnehin schon die ganze Zeit daran, daß, sollte man uns bereits ins Auge gefaßt haben, was ja vermöge unserer hervorstechenden Eigenschaften nicht unwahrscheinlich ist, der Stadtrat einen Beobachter nach uns ausgesandt hat. Ja, ich habe sogar das Gefühl, daß dieser mutmaßliche Beobachter ganz in unserer Nähe ist."

Kaum hatte er die letzten Worte gesprochen, rappelte der Karren plötzlich. Einen Schritt darauf geriet der König selbst derart ins Stolpern, daß er zufolge der nun einsetzenden Hutschwingung um ein Haar in die Luft geschnellt wäre. Sie hielten an und machten als Quelle der Störung zwei außergewöhnlich lange Füße aus, die sich über die ganze Breite des Weges hinzogen und deren Anfang und Ende auf den ersten Blick nicht auszumachen waren. Da sahen sie abseits im Buschwerk einen Mann stehen, dessen Gesicht vor Scham so rot war wie eine Tomate.

Von ihm, so wurde nun festgestellt, nahmen die Füße ihren Ausgang. Dabei wurde auch sichtbar, daß das Leder ihrer Schuhe sich in Farbe und Muster der jeweiligen Umgebung anpaßte, ähnlich wie es manche Tiere vermögen, so daß es im Buschwerk noch grün schattiert war, auf dem Weg aber eine bäunliche Färbung annahm.

Nachdem Terpentin sich als König vorgestellt und auf das Unziemliche hingewiesen hatte, das ihm soeben widerfahren sei, indem man ihn zum Stolpern gebracht habe, stellte auch Spitzel sich vor und erzählte die Geschichte seines Mißgeschicks bis zu dem Augenblick, da er aus dem Fenster geworfen wurde. "Es ist mir furchtbar peinlich," fügte er hinzu, "so lange Füße zu haben. Da du aber, wie ich höre, König bist, so bitte ich dich, mir Asyl zu gewähren, damit niemand von meinen Bekannten und Vorgesetzten erfährt, wie ich jetzt aussehe."

"Deiner Bitte sei stattgegeben", antwortete Terpentin. "Alles Weitere ist eine Frage der Unterbringung. Die Plätze vor und neben mir sind bereits mit Ministern belegt, doch hinter meinem Rücken kann ich dir gerne noch ein Amt zuweisen. Wenn du dort meinen Mantel hochhebst, kannst du den weitaus größten Teil deiner ungewöhnlich langen Füße darunter verstecken - vorausgesetzt, es gelingt dir, den Saum hinten entsprechend in die Länge zu ziehen."

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Spitzel gab sich alle Mühe, wobei ihm die Standfestigkeit seiner langen Füße zu Hilfe kam. Als er schließlich den Mantelsaum mit nach unten gestreckten Armen an sich drückte, merkte er, daß er nur noch sehr kleine Schritte machen durfte, wenn er dem König nicht auf die Fersen treten wollte.

Terpentin ernannte ihn jetzt zu seinem Geheimrat. "Denn", so begründete er seinen Beschluß, "das Aufsehen, das ich vermöge meiner außerordentlichen Gesamthöhe ohnehin schon errege, wird zusätzlich vermehrt, wenn ich eine Amtsperson mit mir führe, welche Geheimnisse hütet. Denn Geheimnisse machen interessant. Zudem sehe ich mich als König verpflichtet, Hilfesuchenden Schutz zu gewähren. Im Übrigen aber warne ich dich nachdrücklichst davor, mir auch nur einmal auf die Hacken zu treten oder mich sonstwie ins Schleudern zu bringen; andernfalls hättest du mit einem ungeheuren Zornausbruch zu rechnen. Davon abgesehen würde ich von da an jeden Morgen und Abend mit der Stoppuhr feststellen, wie lange du brauchst, um die Schnürsenkel deiner Schuhe zu knüpfen beziehungsweise zu lösen."

Wie sie nun weitergingen, hatte der Geheimrat verständlicherweise entsetzliche Angst, dem König auf die Hacken zu treten, und er sah sich gezwungen, seine Schrittlänge sehr zu kürzen und dafür das Schrittempo entsprechend heraufzusetzen. Die Folge war, daß von der Höhlung unter dem Mantel her ein fortwährendes Scheppern und Rasseln zu vernehmen war, als seien dem König zwei in Erregung geratene Klapperschlangen auf den Fersen. Außerdem strengte diese Art zu gehen den Geheimrat so sehr an, daß er bald am ganzen Körper zu zucken und mit dem Gesicht zu grimassieren begann wie ein Spastiker. Natürlich hätte er es sich leichter machen können, wenn er mit Hinblick auf eine größere Schrittlänge den Mantelsaum nicht so an sich gepreßt hätte; dann aber wären seine ungewöhnlich langen Füße zum Vorschein gekommen, und das wollte er um jeden Preis vermeiden.