Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

2. Kapitel: Wie der König den Faulpelz Sirup, nachdem dieser bis zur Phosphoreszenz verfault war, zu seinem Freund und Propagandaminister machte.

Drei Tagesmärsche entfernt von dem Ort, da Terpentin diese Worte vor sich hin murmelte, spielte sich indessen ein Geschehen ab, dessen Verlauf und innere Folgerichtigkeit mit dem Werdegang des Königs gewisse Übereinstimmungen aufwiesen und dessen Subjekt - der Konditorgeselle Sirup - in der Tat von einer sehr ähnlichen Strebung besessen war: nämlich sich interessant zu machen um jeden Preis. Auch in diesem Fall war es natürlich die Folge einer ungewöhnlich ausgeprägten Selbstbezogenheit. Hören wir nun, wie die Geschichte begann und wie sie vorläufig endete!

"Ich werde eine Leuchte sein", sagte Sirup. - "Von wegen Leuchte," widersprach ihm der Meister, "du bist ja ein Faulpelz !" - Ja, er war nunmal sehr faul, und er blieb es. Er wurde sogar noch fauler - bis er sich überhaupt nicht mehr bewegte. Das ging eine Weile gut, länger aber auch nicht, denn bald hatte er sich wundgelegen und begann an verschiedenen Körperstellen zu faulen. Ein ganz natürlicher Vorgang also. Es ist ja bekannt, daß Seele und Körper des Menschen eine untrennbare, organische Einheit bilden, die künstlich zu zerreißen auch der Fäulnisprozeß nicht bestrebt ist. Die Fäulnis zog Schimmelbildung nach sich, und bald war Sirup vollständig mit einem Pelz überzogen. Wie jeder Faulpelz. Auch hier also erkennen wir ohne Verwunderung die Notwendigkeit des Geschehens. Den Prozeß rechtzeitig aufzuhalten war nicht mehr möglich gewesen, seit der mit der Fäulnis verbundene giftige Gestank den herbeieilenden Meister gleich an der Türschwelle erstickt hatte und die andern Gesellen - verständlicherweise - sich nicht dem gleichen Schicksal ergeben wollten.

Nun wissen wir, daß Fäulnis an organischen Stoffen Leuchterscheinungen hervorrufen kann, und so werden wir nicht überrascht sein zu hören, daß auch Sirup in phantastischen Farben zu phosphoreszieren begann. Nachts konnte man das durchs Fenster beobachten. Sirup war also doch eine Leuchte geworden; folglich: er hatte recht behalten. Freilich - um einen gewissen Preis!

"Nun, Leuchten mag es in jedem Berufszweig viele geben", erläuterte Sirup auf eine diesbezügliche Anfrage. "Vielleicht aber" - und er verwies auf die Leichen an der Türschwelle, auf die Spukgeschichten und die immer mehr um sich greifenden Schwellenängste - "vielleicht aber bin ich unter all diesen Leuchten noch die bei weitem interessanteste."


Wie nun Terpentin noch am Sinnen war, unterbrachen ihn seine Minister. "Es riecht plötzlich nach Fäulnis", sagt der eine. - "Das ist immer dann, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung bläst", sagte der andre. - "Dann ist es besser," sagte der dritte zu Terpentin, "wir ziehen in die Gegenrichtung weiter. Denn Eins ist klar: nur solange wir schwindelfrei bleiben, können wir dich und deinen Hut weiterhin stabilisieren."

Der König willigte ein. Es dämmerte aber schon, und als er sich zufällig umdrehte, sah er am fernen Horizont einen Lichtschein, der in prächtigen Farben irisierte. "Das ist ein sehr interessantes Leuchten," sagte er, "interessanter als alles, was ich bisher gesehn habe. Und ich bin fest überzeugt, daß es auf einen sehr bedeutenden Mann hinweist, der soeben ein sehr bedeutendes Werk begonnen hat. Ich würde sagen, wir gehn doch wieder in diese Richtung und ihr nehmt euch wegen des Geruchs ein bißchen zusammen."

So geschah es. Nach drei Tagen erreichten sie gegen Abend die Stadt, von welcher der Fäulnisgeruch und das Leuchten ihren Ausgang nahmen. Sie gingen weiter und trafen auf ein Haus, dessen Mauern zufolge einer Giftgasexplosion eingestürzt waren. Inmitten der Ruine lag Sirup, stank und leuchtete. Nachdem König Terpentin sich und seine Stabilisationsminister vorgestellt hatte, sagte er: "Du hast dich mittels deiner fäulnisbedingten Phosphoreszenz dermaßen interessant gemacht, daß wir trotz deiner nicht grade angenehmen Ausdünstungen einen dreitägigen Marsch auf uns genommen haben, um dich zu sehen. Das will belohnt sein. Ich frage dich: möchtest du mein Propagandaminister werden ?" - "Wenn ich mich nicht bewegen muß, von mir aus", antwortete Sirup.

Da nahm der König einen Handkarren, legte Sirup drauf und stülpte eine entsprechend große, gläserne Käseglocke über ihn. "Ich werde von nun an immer diesen Karren vor mir herschieben," kündigte er an, "denn Sirup ist mein Freund und Aushängeschild. Und ich werde nicht zulassen, daßmir jemand das Schieben abnimmt. Laßt uns jetzt zum Bürgermeister ziehn und mit vereinten Kräften unser Königreich fordern."

Als sie an der Kirche vorbeikamen, stellten sie fest, daß diese das einzige Gebäude war, in dem Licht zu brennen schien, und daß ihnen auf den Straßen noch niemand begegnet war. Da klopften sie an das Kirchtor um zu erfragen, was es mit alledem auf sich habe. Aber erst nach einer geraumen Weile sprang die Tür auf, und der Pfarrer, gefolgt von einer Schar beherzter Männer, stürmte auf sie zu. "Hebe dich weg von uns, Satan", schrieen sie und hielten ihnen ihre Kreuze entgegen. - "Was soll denn dies nächtliche Geschrei", antwortete König Terpentin barsch. "Grade bin ich gekommen, um diesen phosphoreszierenden Faulpelz mit in mein Reich zu holen. Ich möchte wissen, warum eigentlich sonst niemand hier draußen anzutreffen ist. Habt ihr etwa Angst vor mir ?" -"Wir sind ohne Sünde", sagte der Pfarrer, nachdem er sich verlegen umgesehn hatte. - "Red' keinen Unsinn und zeig' uns den Weg zum Bürgermeister !" herrschte Terpentin ihn an. - "Leider ist der Bürgermeister verreist", antwortete der Pfarrer zitternd und beklommen. "Und zwar hat er sich auf die schiefe Bahn begeben, die dort durch die Waldschneise führt."

Wann oder ob er überhaupt zurückkommen würde, das wußte er allerdings nicht zu sagen. Da sagte Terpentin zu seinen Ministern: "Da die Nacht schon fortgeschritten ist und wir von dem langen Marsch ermüdet sind, halte ich es für angebracht, daß wir jetzt schlafen gehn. Infolge meiner außerordentlichen Gesamthöhe und der Phosphoreszenz meines Freundes Sirup sowie dessen trotz der Käseglocke nicht ganz unterbundenen Ausdünstungen wird der Bürgermeister, sobald er hier herkommt, uns gewiß nicht verfehlen."

Dann lehnte er sich gegen den nächsten Fabrikschornstein, den sie in Wegesnähe vorfanden, und ließ sich und seinen Hut mit den drei Stabilisationsseilen festbinden, um beim Schlafen nicht umzufallen. Zuvor legte er noch sein großes Taschentuch über Sirups gläserne Käseglocke, damit ihn dessen Licht nicht allzu sehr blendete.

Als ihnen am nächsten Morgen der Bürgermeister aber immer noch nicht begegnet war, machten sie sich auf dem vom Pfarrer beschriebenen Weg, um ihm entgegenzukommen. Schließlich begann sich der Wald zu lichten, und sie blickten auf ein weiträumiges Tal hinab. "Es hat den Anschein, daß der Bürgermeister vor uns geflüchtet ist", sagte Terpentin zu seinen Ministern. "Da es mir als König aber nicht ansteht, einem Menschen nachzulaufen, ordne ich hiermit an, daß wir in der nächstbesten Stadt, die wir dort im Tale antreffen werden, unsre Forderung nach einem Königreich vortragen, und zwar mit äußerstem Nachdruck. Denn ich meine, daß jetzt, da wir einen guten Freund und fähigen Propagandaminister für uns gewonnen haben, die Zeiten des Bittens und Bettelns endgültig der Vergangenheit angehören."