Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und Terpentin.

6. Kapitel: Wie der Unfallarzt Dr. Gipsschläger das Normalkomitee in eine Krise stürzte und der städtische Psychiater seine Maßnahmen ankündigte.

Werfen wir nun einen Blick zurück in den Sitzungssaal des Normalkomitees, so erkennen wir die Stadt- und Normväter in einem Sektgelage. "Dem Knüppel unseres Erziehungssenators hat bisher noch niemand standgehalten", frohlockte soeben der Vorsitzende. "Ich sehe daher allen Grund, die Niederlage der Normbrecher im Voraus zu feiern."

Währenddessen war der Unfallarzt Dr. Gipsschläger damit beschäftigt, mittels eines großen Fernrohres, das im Sitzungssaal aufgestellt war, die städtische Umgebung nach Dysplastikern, das heißt nach Mißgestalteten und Beschädigten abzusuchen. Er war soeben erst ins Komitee berufen, über König Terpentin und seine Begleiter jedoch noch gar nicht aufgeklärt worden. Dies macht verständlich, warum er sich über seine Beobachtungen jetzt etwas ungeschickt, wenn auch durchaus glaubwürdig äußerte.

"Ich sehe gerade", so sagte er, "einen Sandhaufen, dessen Volumen dem eines dicklichen, ja aufgequollenen Menschen entspricht. Einige Kilometer entfernt sehe ich eine Art Vogelscheuche in einem Baum hängen und darunter wiederum einen Sandhaufen, der aber wesentlich kleiner ist. Ausgehend von diesen Beobachtungen haben wir auf ein Unfallopfer zu schließen, dem mit Sicherheit nicht mehr zu helfen sein wird. Im Übrigen kann ich nur jedem derart gestalteten Zeitgenossen raten, jegliche Aufregung und Erschütterung tunlichst zu vermeiden."

Wortlos setzte der Vorsitzende sein Sektglas ab, und die übrigen Ratsleute folgten seinem Beispiel. - "Nun, das soll wenigstens uns nicht erschüttern", sagte er plötzlich, und seine soeben noch glasigen Augen sprühten vor kämpferischer Entschlossenheit. "Der Erziehungssenator ist nicht umsonst, nein, er ist für uns alle geplatzt; er hat sich für die Stadtnorm geopfert, er ist ein Normal-Held, und wir alle sind ihm verpflichtet. Trinken wir auf das Andenken des Erziehungssenators!"

"Jetzt habe ich gerade", so fuhr Dr. Gipsschläger fort, "einen an sich unscheinbaren kleinen Mann im Visier, der jedoch außergewöhnlich lange Füße hat. Zweifellos handelt es sich um eine Wucherung, die dringend einer ärztlichen Behandlung bedarf, zumal der Betroffene sich seiner Entstellung sehr zu schämen scheint und daher durch das Buschwerk kriecht, wodurch er nur langsam vorankommt."

Der Vorsitzende erstarrte und ließ sein Sektglas, das er soeben hoch erhoben hatte, in der Luft stehen. Seinem Beispiel folgten die übrigen Ratsleute.

"Nunmehr", so setzte der Unfallarzt seine Erkenntnisse fort, "gewahre ich eine Gruppe, deren Anblick schlechthin bestürzen muß. Die mittlere dieser Personen dürfte einen furchtbaren Schlag auf den Kopf erlitten haben, denn die rote Beule ist bereits so hoch und spitz, daß sie mittels dreier Seile künstlich stabilisiert werden muß. Bei den Männern, welche diese Aufgabe übernehmen, scheint es sich um Sanitäter zu handeln, die zwar guten Willens, jedoch nur unzureichend ausgestattet sind. Immerhin ist der Verletzte noch rüstig genug, um einen offenbar Marschunfähigen von sehr kleiner Gestalt und dafür umso größeren Wuschelkopf in seiner Kapuze zu transportieren. Wie ich sehe, kommen die Unglücklichen direkt auf uns zu, sodaß sie in Bälde unsere Stadt erreicht haben werden."

Der Vorsitzende ließ das Sektglas aus der Hand fallen. Ihm folgten die übrigen Ratsleute.

"Und nun", so beendete Dr. Gipsschläger seinen Bericht, "erkenne ich einen Verwundeten, der bereits völlig verfault zu sein scheint; denn er liegt unter einer Käseglocke auf einem Karren, welcher von dem Leidensgenossen mit der Beule geschoben wird. Ihm würde ich keine Chance mehr geben. Immerhin scheint er für die Gruppe noch von Nutzem zu sein, denn seine fäulnisbedingte Phosphoreszenz wirft einen hellen Lichtschein auf ihren Weg."

Urplötzlich griff der Vorsitzende zu einer Sektflasche und schleuderte sie dem Arzte entgegen. Dieser warf sich zu Boden; seinem Beispiel folgten die Ratsleute. Als Dr. Gipsschläger sich jedoch wieder erheben wollte, merkte er, daß es ihm nicht gelang. Der Unfallarzt hatte sich nämlich ein Bein gebrochen.


Es muß als ein glücklicher Zufall betrachtet werden, daß gerade in diesem Augenblick der städtische Psychiater den Rats- und Normsaal betrat. "Ja", rief er aus, "seid ihr denn von allen Verhaltens-Normen verlassen?"

Dieser Aufruf bewirkte, daß die Ratsleute sich schnell wieder faßten; denn der Psychiater war ein sehr angesehener und mächtiger Mann, ja einer der mächtigsten Männer überhaupt in der Stadt. An ihn pflegte der Vorsitzende sich zuerst zu wenden, wenn irgendein normwidriges Ereignis sein Gemüt bedrückte. Daher wurde er jetzt sofort in Kenntnis gesetzt über das bevorstehende Eintreffen von Sirup und König Terpentin.

Doch er war, das muß hinzugefügt werden, auch ein echter Skeptiker. "Ach was," entgegnete er nun empört, "nach eurer Beschreibung muß man ja glauben, die reinsten Fabelwesen in der Stadt zu haben. Zugestanden, daß ich selbst keine Schönheit bin, glaube ich an die Existenz derart abnormer Erscheinungen nicht. Sollte es sie aber" - er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf - "doch geben, so wäre es dringend angeraten, daß sie sich bei mir einer Behandlung unterzögen, denn offensichtlich sind sie alle in außerordentlichem Grade fehlangepaßt und verletzen somit eindeutig unsre Stadtnorm."

Und nun begann er, ausführliche Diagnosen zu stellen.

"Was Terpentin und sein selbsternanntes Königtum betrifft, so handelt es sich um einen klassischen Fall von Größenwahn als Folge eines verdrängten Minderwertigkeitskomplexes. Immerhin hat er ja seine erste Versetzung, wie aus euren Berichten hervorgeht, nur mit Ach und Krach bestanden, woraufhin sein ungewöhnlich entwickelter Geltungstrieb unbefriedigt blieb. Und weil er auch in seiner damaligen Körpergröße die Mitschüler nicht überragte, versuchte er diesem Mangel dadurch abzuhelfen, daß er wenigstens einen sekundären Bestandteil seiner Persönlichkeit, nämlich seinen Hut, übermäßig in die Höhe wachsen ließ, um irgendwie doch noch beachtet, jedenfalls nicht übersehen zu werden. Die Folge: Eine lächerliche Erscheinung bizarrster Verschrobenheit, ein Bild infantiler Fantastik, des Zurückgebliebenseins auf der Stufe des Märchenalters; gänzlich unzeitgemäß und fehlangepaßt. Dringend behandlungsbedürftig. Patient hat keine Krankheitseinsicht, ist dadurch besonders therapie-resistent.

Sirup: Narzißmus, Autismus, Katalepsie, dementia praecox. Totale Rückbildung aller körperlichen und seelischen Funktionen mit Ausnahme des Geltungstriebes. Exzessive Faulheit und Unreinlichkeit, extrem unangepaßt. Keine Krankheitseinsicht. Erfolg einer Behandlung scheint äußerst fraglich, doch ist eine Zwangsverwahrung wegen der außerordentlichen Umweltgefährdung dringenst erforderlich.

Geheimrat: Verdrängter Exhibitionismus, macht sich geltend durch Umkehrung als Voyörismus, zugleich aber auch als Organminderwertigkeit ingestalt viel zu langer Füße. Krankheitseinsicht, sehr positiv!

Wissenschaftsminister: Tragikkomischer Fall von Überrumpelung eines begabten, aber weltfremden und eingesponnenen Gelehrten, der vermutlich vor dem Ereignis bereits durch eine Alterspsychose mit schleichendem Verlauf in seiner Anpassung gestört war.

Stabilisationsminister: Irregeleitete, aufklärungsbedürftige Tölpel."


"Ja," schloß der Psychiater seine Diagnosen ab, "kennzeichnend für diese wie auch für alle anderen Fälle seelischer Krankheit ist die Unangepaßtheit. Es wäre verheerend für das Leben in unserer Stadt, wenn Jeder so handeln und aussehehn dürfte, wie er es seiner Neigung nach gerne täte. Mein großes Vorbild war schon immer Prokrustes gewesen, jener einzigartige Wegelagerer der griechischen Sage, welcher die Wanderer auf sein Bett legte und ihre Körper je nachdem, ob das Bett zu kurz oder zu lang für sie war, in die Länge zerrte oder die überstehenden Gliedmaßen abschnitt. Ich möchte diesen Prokrustes als den Heros der Anpassung schlechthin bezeichnen, wenn auch die heutige Zeit uns nahelegt, modernere Mittel anzuwenden, als sie damals möglich waren.

Natürlich hat auch er, wie alle Großen der Welt- und Sagengeschichte, seine Neider und Gegner gehabt, vor Allem den Theseus, welcher Prokrustes bekanntlich ermordete und überdies noch andere vermeintliche Ungeheuer zur Strecke brachte. Auch heute noch gibt es sie, diese ewigen Opponenten gegen die Anpassung, ja gerade heute gibt es ihrer mehr denn je. Sie alle stehen unter dem Wiederholungszwang der Taten des Theseus, mit anderen Worten, sie leiden unter dem von mir gefundenen und so benannten Theseuskomplex. Und dieser - meine Herren Stadt- und Normväter, ich sage es in großer Sorge! -, dieser Theseuskomplex ist das eigentliche Übel unserer Zeit."

Mit den letzten Sätzen hatte sein bis dahin maskenhaft starres Gesicht Züge einer plötzlichen Betroffenheit angenommen, und auch die Stadtväter nickten jetzt in ernster, ja beklommener Zustimmung.

"Da nun", so fuhr der Psychiater fort, "allein der Geheimrat, wie gesagt, Krankheitseinsicht hat, müssen wir auf ihn unsere Hoffnung setzen. Es ist nämlich anzunehmen, daß er mich so bald wie möglich aufsuchen wird, um sich wegen der Minderwertigkeitsgefühle, die er zufolge seiner Entstellung hat, von mir behandeln zu lassen. Ist dies aber einmal geschehen, so wird er zweifellos versuchen, seinen Dienstherrn, nämlich König Terpentin, ebenfalls von der Stadtnorm zu überzeugen."

Nachdem er somit die Rats- und Normleute beruhigt und etliche Bekundungen ihrer Dankbarkeit entgegengenommen hatte, verließ er sogleich den Sitzungssaal und eilte seinem Hause zu, wo er den Geheimrat in Bälde zu empfangen hoffte.