Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

7. Kapitel: Wie der Klärmeister den Faulpelz Sirup, nachdem dieser in die Kanalisation gespült worden war, mit einem Arbeitsangebot in schwere Bedrängnis brachte.

Währenddessen machte König Terpentin sich bereits Gedanken über den Weg, den sein Geheimrat eingeschlagen haben könnte. Der Wissenschaftsminister war diesmal ratlos, denn dem Verhalten Spitzels lagen keine physikalischen, sondern (patho-)psychologische Ursachen zugrunde, und diese entzogen sich einer exakten Berechenbarkeit. Währenddessen kam ein gewaltiger Sturm auf, woraufhin sie beschlossen, an einem geschützten Ort zu übernachten. Also hoben sie einen Kanaldeckel ab, und der König stieg hinab, bis sein spitzer roter Hut vollständig unter der Straßendecke verschwunden war und somit nicht mehr in Schwingungen geraten konnte.

Als am nächsten Morgen der Sturm abgeklungen war, wollten sie sich sogleich auf den Weg machen. In diesem Moment aber setzte ein heftiger Regen ein, und noch bevor die Stabilisationsminister den Deckel über den Schacht geschoben hatten, wurde Sirup von einem Gießbach erfaßt und in die Kanalisation gespült. Die Folge war eine heftige Explosion seiner Fäulnisgase, welche in weitem Umkreis das Erdreich erschütterte, zahlreiche Kanaldeckel in die Luft jagte und sogar Bäume entwurzelte. Auch der König wurde umgeworfen und lag mit seinen Ministern betäubt darnieder.

Es versteht sich, daß Sirups unterirdische Reise vorläufig in einem Klärwerk endete. Der Klärmeister, welcher üble Gerüche zwar gewohnt, letzten Endes aber auch nur ein Mensch war, hatte nichts Eiligeres zu tun, als dem Propagandaminister sofort eine neue Käseglocke überzustülpen.

"Obwohl du dich auf eine ungebührend lautstarke und erschütternde, ja umwerfende Weise angekündigt hast," sagte er, "bin ich dennoch froh, daß du gekommen bist. Ich habe nämlich ein Schreiben erhalten vom Arbeitsamt-Direktor, zugleich Vorsitzender des Normalkomitees, in welchem ich aufgefordert werde, dir einen Arbeitsplatz in meinem Faulturm zu verschaffen. Dein Entgelt wird für die nächsten Jahre allerdings über einen Nullbetrag nicht hinausgehen, da außer den Vermittlungsgebühren, die der zu Vermittelnde selbst zu tragen hat, noch zahlreiche andere Auslagen rückwirkend zu vergüten sind, insbesondere die nicht unerheblichen fäulnisbedingten Vergnügungs- und Umweltbelastungssteuern. Ich werde dir den Brief jetzt zeigen, damit du weitere Regelungen sowie die angedrohten Maßnahmen bei Faulheit und Widersetzlichkeit erfährst."

Er ging zu seinem Büro und kam mit einem Papier zurück. Infolge der statischen Aufladung der Käseglocke, welche aus fäulnisbedingten Ionisierungsvorgängen resultierte, wurde der Brief dem Klärmeister jdoch bereits aus 15,5 m Entfernung aus den Händen gerissen, worauf er blitzschnell auf Sirup zuschwirrte und - mit der Schriftseite nach innen - auf das Glas klatschte.

Obwohl nun die Umstände nach Kräften dazu beigetragen hatten, ihm das Lesen aufzudrängen, dürfen wir daraus nicht den Schluß ziehen, Sirup habe sich um das Arbeitsangebot gerissen. Der Klärmeister allerdings zog fälschlich diesen Schluß und karrte den Minister sogleich in den Faulturm. "Da du, wie ich sehe, von Arbeitswut besessen bist," sagte er, "will ich dich zu meinem persönlichen Berater machen. Zuvor muß ich dich nur noch einer Prüfung unterziehen, die irgendwann Jeder zu absolvieren hat, der für mich arbeitet. Solltest du sie - ganz wider meinem Erwarten - nicht bestehen oder solltest du während der Prüfung Äußerungen machen, die mein Selbstwertgefühl verletzen, so müßte ich dich allerdings in den Faulschlamm hinabstoßen, was deinen sofortigen Vergiftungs- und Erstickungstod zur Folge haben würde."

An dieser Stelle müssen zur Person des Klärmeisters einige Erläuterungen eingefügt werden. Zunächst sei lobend erwähnt, daß er ein gewissenhafter Mensch war und es mit seiner Aufgabe somit sehr genau nahm. Trotzdem geriet der biologische Reinigungsprozeß der Kläranlage immer wieder ins Stocken, so daß die Methangärung im Faulturm gestört war und sich übelriechende Gase wie Indol und Skatol entwickelten. Ob dies durch mangelnde Sachkenntnis des Klärmeisters verschuldet war oder durch schadstoffhaltige Abwässer skrupelloser Industriebetriebe, durch welche die für den Faulungsprozeß notwendigen Bakterienstämme immer wieder vernichtet wurden, sei vorerst dahingestellt. Jedenfalls versuchte der Klärmeister nun in den Besitz immer neuer und geeigneterer Bakterien dadurch zu gelangen, daß er jeden Besucher zwang, die eigens hierfür angelegten Latrinen aufzusuchen. Diese drückende Tätigkeit wurde ihnen auch vergütet, und nicht selten waren sie vom Arbeitsamt-Direktor, das heißt vom Vorsitzenden des Normalkomitees, hierher geschickt worden. In diesem Fall handelte es sich - wie bei Sirup - um die ganz hoffnungslosen Fälle, die er auf keine andere Weise mehr in das Arbeitsleben hineinzwingen konnte.

Als Nächstes muß vermerkt werden, daß der Klärmeister das Ägyptische Totenbuch aufmerksam studiert hatte und sich nun selbst in der Rolle des Unterwelt-Gottes Osiris sah, der bekanntlich über das Schicksal der Toten richtete. Eine hiermit verwandte Gestalt erkennen wir in der Sphinx, welche jedem Vorübergehenden ein bestimmtes philosophisches Rätsel stellte und ihn, falls er es nicht löste, in den Abgrund stürzte - bis sie konsequenterweise sich selbst hinabstürzte, als Ödipus die richtige Antwort wußte.

In Anlehnung an diese Sage gab auch der Klärmeister Jedem, der mit der Abgabe seiner Körperprodukte für ihn arbeitete, nach einiger Zeit ein entsprechendes, stets gleichlautendes Rätsel auf. Er war nämlich der Meinung, daß zum Gelingen des Großen Alchymischen Werkes, wie er den Faulungsprozeß nannte, nicht nur der körperliche, sondern auch ein geistiger Einsatz notwendig war, und daß er diesen somit feststellen konnte. Unglücklicherweise aber sprach fast niemals einer der Ausscheidungswilligen die richtige Antwort aus, woraus folgt, daß in der Grundmasse des Faulturms bereits zahllose Leichen ihrer Zersetzung harrten. Diejenigen aber, welche das Rätsel unerwartet doch lösten, stieß er ebenfalls hinab. Wir müssen nämlich wissen, daß der Klärmeister sensibel war und sein Selbstwertgefühl durch einen triumphierenden oder gar gehässigen Tonfall leicht verletzt werden konnte.

Nachdem er nun Sirup auf einen Rost innerhalb des Faulturms gekarrt hatte, legte er sich sphinxartig vor ihm auf den Boden, setzte sich zur Verdeutlichung eine Löwenmähne auf, welche ein wenig auch an die richterlichen Perücken erinnerte und nahm eine Papyrusrolle zur Hand. Aus ihr las er sodann die Rätselfrage vor.

"Jeder hat sie, Niemand will sie. - Was ist das ?"

"Scheiße", sagte Sirup.

"Wenn das eine Antwort war," entgegnete der Klärmeister, "so ist sie richtig. Hättest du sie nicht gleich gewußt, so wäre ich dir in Anrechnung deines ungewöhnlichen Arbeitseifers mit dem Hinweis entgegengekommen, daß ich selbst vorwiegend aus jener Substanz bestehe. Solltest du aber" - seine Miene wurde äußerst bedrohlich - "mit diesem Wort deinen Unmut über die Prüfung oder gar über mich persönlich zum Ausdruck gebracht haben, so müßte ich dich in den Abgrund hinabstoßen." Er wartete auf eine Erklärung, doch da diese nicht kam, versetzte er dem Karren einen Stoß und sprach dabei die Worte: "Was oben ist, das bringe nach unten", womit er aus der "tabula smaragdina" des altägyptischen Philosophen und Alchymisten Hermes Trismegistos zitierte.

Selbstverständlich wäre der Propagandaminister sofort im Faulschlamm versunken, hätte sich nicht unter seiner Käseglocke, bedingt durch das für ihn ungewöhnliche Bioklima des Klärwerks, ein Unterdruck gebildet. Die Folge war, daß die Glocke fest auf dem Karren haftete und dieser somit schwamm. Da seine Aufprallfläche aber erheblich größer war als die eines Menschen, der per Kopfsprung in die Fluten taucht, bekam der Klärmeister ein paar kräftige Spritzer ab, so daß er, über und über mit Fäkalien besudelt und von Bandwürmern umwickelt, das Gleichgewicht verlor und dem Rätselknacker in die Tiefe folgte.

Zum Glück für ihn landete er, etwas unsanft freilich, auf der Käseglocke, auf welcher er notgedrungen auch sitzenblieb. Bedenken wir nun, daß er nicht nur sensibel, sondern vor Allem auch cholerisch temperiert war und er Sirup daher am liebsten verprügelt hätte, so können wir leicht seine Wut ermessen, die ihn befiel, als er den Faulpelz unter sich in bequemer, entspannter Haltung liegen sah, ihm des schützenden Glases wegen aber nichts anhaben konnte.

Allzu lange währte diese Betrachtung jedoch nicht, denn da die Zu- und Abfuhr des Faulschlammes nur von außen geregelt werden konnte, stieg dieser innerhalb des Turmes immer weiter an. Als er den Rost erreicht hatte, geriet Sirup sogleich auf festen Grund, und der Klärmeister karrte ihn hinaus. "Ich werde dich jetzt", so schrie er, "zur mechanischen Zerkleinerungsanlage bringen, die sich gleich vor dem Zulauf des unterirdischen Abwasserkanals befindet. Zuvor aber werde ich dir noch meine Philosophie vortragen, um dich auch geistig auf deinen Totaleinsatz für das alchymische Werk der Reinigung vor- und aufzubereiten."

Es sei an dieser Stelle vermerkt, daß der Klärmeister nicht nur in antiker, sondern auch in moderner Philosophie belesen war und sich besonders den Pessimismus Schopenhauers angeeignet hatte.

"Der Mensch", so begann er zu reden, "ist dasjenige Wesen, welche jegliche Materie, die es sich einverleibt, eben dadurch zugleich entwertet, indem es sie ungenießbar, stinkend, ekelerregend und widerlich macht. Behufs einer gerechten Erfassung dieses entsetzlichen Vorganges stelle man sich sein Gegenbild vor: Ein Wesen, das alles dergestalt Unerquickliches in etwas Appetitliches, verlockend Duftendes, Gesundes und Wertvolles verwandelt. Ihm allein hätten wir ein Recht auf Dasein zuzusprechen, da es sich fortwährend als nützlich, aufbauend, werteschaffend und somit als positiv erwiese. Selbst Tiere sind nicht selten schöpferisch im Hervorbringen von Werten, wie uns das Angebot von Fleisch, Milch, Käse, Eiern, Daunenfedern, Leder, Purpur, Elfenbein und Ambra eindringlich vor Augen führt; wiewohl es nur allzu leicht hinwegzutäuschen vermag über die unvorstellbaren Mengen von Kot, Jauche und Mist, von Abfall und Unrat, mit dem uns jene Nutzbringer zuvörderst versorgen.

Zwar - und dies ist ein scheinbarer Einwand - vermögen bisweilen auch Menschen wertvolle Dinge zu erschaffen; allein dies geschieht absichtlich und künstlich durch ihrer Hände Arbeit, nicht jedoch durch ihrer Leiber Notwendigkeit: daher sie als betrügerische Machenschaften behufs der Erhaltung ihres Selbstwertgefühles leicht zu entlarven und demaskieren sind.

Am ärgerlichsten ist allzumal, daß jeder Versuch, durch Verfeinerung der Speise begünstigend auf das Ergebnis einzuwirken, gänzlich ohne Wirkung bleibt. Wir können diese noch so herrlich darbieten: Auf kostbarstem Geschirre, mit silbernem und goldenem Besteck, bei festlich schimmerndem Kerzenlicht, zu den Klängen von Tafelmusik und in erlesener Gesellschaft; wir können in der körperlich untadeligsten Verfassung sein, ohne jedwede Verdauungsbeschwernisse, womöglich sogar im Besitze eines ärztlichen Gesundheitspasses; wir können für die vorzüglichste Beschaffenheit der Speisen und Zutaten Sorge getragen, ja uns verschwendet, verschuldet und ruiniert haben im Aufwand ihrer Beschaffung, Zubereitung und Darbietung - es ist Alles umsonst und vergebens: Das Resultat, dessen wir uns bald darauf veräußern, ist, wie es immer ist, sozusagen von stets gleichbleibender Qualität; es spottet all unserer Bemühungen und entläßt uns wie bisher in der grauenhaftesten inneren Leere, in dem vernichtenden Bewußtsein, nichts geschaffen zu haben, dem irgendein Bestand, Wert oder Nutzen zugesprochen werden kann; so daß wir am Ende noch froh sein dürfen, nichts mehr sehen, hören und riechen zu müssen von jenem unwürdigen Leibesprodukt, welches Niemand geschenkt haben möchte, ja nicht einmal gegen Belohnung in die Hand nehmen würde.

Kehren wir den Versuch jedoch um, dergestalt daß wir die - an sich immer gute - Speise durch eine weniger gute, durch eine relativ schlechtere ersetzen, so wird das Ergebnis nicht ebenfalls schlechter, als es je schon ist: Womit der Beweis erbracht ist, daß die Substanz, welche hervorzubringen unser Leib sich entwürdigt, bereits die endgültige und perfekte, die nicht mehr zu unterbietende, folglich die absolute Unbrauchbarkeit und Wertlosigkeit, die grenzenlose Verderbnis, ja die Schlechtigkeit an und für sich darstellt, wie sie der Widersacher Gottes nicht furchtbarer konnte ausgestalten.

Die Tatsache nun, daß zum fortwährenden Hervorbringer dieses Urstoffes der Verneinung gerade der Mensch ausersehen ist; daß wir tagtäglich aufs Neue von Abscheu und Widerwillen gegen uns selbst ergriffen, ja, in Voraussicht der notwendigen Entleerung, von Grausen geschüttelt werden, so daß Scham, Wut und Verzweiflung unsere Sinne erfüllen muß: All dies zusammengenommen vermochte unserem Selbstwertgefühl jenen vernichtenden Schlag zu versetzen, von dem es sich in Gänze nie wieder wird erholen können; so daß als Urgrund unserer Erbsünde nicht der Geschlechtstrieb, sondern allein der Vorgang der Fäkalisierung in Betracht kommt; und als ihr Symbol nicht die verführende Schlange, sondern das abführende Darm-Geschlinge.

Stellen wir uns nunmehr die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Erlösung, so erkennen wir alsbald, daß völlige Verzweiflung uns zum Los bestimmt ist: Insofern nämlich auch währenddessen unser Leib nicht aufhört, das unselige Werk der Fäkalisierung fortzusetzen und uns somit verspottet. Ja, nicht einmal der Schlaf, welcher selbst noch dem schlimmsten Verbrecher die Hände bindet, vermag dem teuflischem Leibesgeschehen ernstlich Einhalt zu gebieten; geschweige denn, daß bloße Absicht und die von sittlichem Strebungen getragene Einsicht es vermöchte. Das Faß des Übels ist ohne Boden, und noch niemals mochte es einem Menschen gelungen sein, es noch bei Lebzeiten gänzlich zu erschöpfen. Freilich, der einfältige Mensch verfällt jeden Tag aufs Neue der lächerlichen Illusion, sich endgültig entleert zu haben und läßt sich trotz unablässiger Erfahrung des Gegenteils nicht in seinem Lebensmut erschüttern; der gebildete aber weiß, daß er die Büchse der Pandora nicht besitzt, als sie vielmehr verkörpert.

Fragen wir uns nun weiter, was etwa von einer Maschine oder technischen Anlage zu halten sei, welche dem Menschen darin gleicht, daß sie niemals etwas Wertvolles schafft, vielmehr jeglichen Stoff, den man in sie fügt, in nochmals degradiertem Zustand wieder aus sich entläßt und das Übel in der Welt vermehrt: so muß unser Urteil unbedingt vernichtend ausfallen nicht nur über sie selbst, sondern in erhöhtem Maße über ihren unglücklichen Erfinder, sodann aber über ihren gewissenlosen Betreiber, den zu begradigen und zu richten die härteste aller irdischen Strafen nicht ausreichen kann.

Nun aber, wagen wir endlich, ein Klärwerk uns auszumalen, der Bestimmung nach ein Erlösungswerk, dem das verstofflichte, dem Menschen geschuldete Übel zugeführt wird, auf daß es gereinigt, durchlichtet und gewandelt werde; wagen wir, uns auszumalen, daß von Alledem das genaue Gegenteil geschähe; daß also das ohnehin schon Verderbte, in die unterirdische Kanalisation Getriebene, anstatt daß es erhoben und verklärt werde, vielmehr in seiner stinkenden Abschaumhaftigkeit noch potenziert wird: Muß nicht der Klärmeister, welcher in dieser Hölle des technischen und moralischen Versagens das Szepter führt, als der Teufel aller Teufel, der Teufel in Potenz erscheinen, als der finsterste aller Drachen, welchen zu vernichten nur noch der Erzengel angerufen werden kann ?

Ja," schrie er, "ich weiß um mein Versagen. Das Versagen, das bin ich. Sollte es aber eine Macht geben - und es gibt sie nicht ! -, eine Macht, die sich in den Kopf gesetzt hat, mich zu widerlegen, die mir beweisen will, daß ich doch zu etwas Edlem fähig bin, daß ich das Schlechte in etwas Gutem verwandeln kann - ich werde ihr die Stirn bieten, und wenn ich dabei auslaufe !"

An dieser Stelle sei erläuternd nachgetragen, daß der Klärmeister bis fast zum Halse mit Kot und Urin angefüllt und gleichzeitig von steter Furcht besessen war, er könne eines Tages auslaufen. Diese Furcht, ihre psychiatrische Bezeichnung lautet koprophile Dysmorphophobie, war nicht ganz unbegründet, denn überall sickerte und tropfte das Abwasser aus seinem Leib, welcher einem Bündel undichter, dick bandagierter Heizungsrohre glich. In Widerspruch nämlich zu seinen soeben gemachten Ausführungen hielt er seine eigenen leiblichen Abfallstoffe für dermaßen wertvoll, daß er sie auf keinen Fall der Umwelt anvertrauen wollte; und so zwang er sich willentlich zu einer chronischen Verstopfung, deren Entsprechung im Abwasser-Kanalsystem durch gelatinöse Massen von Zoogloea-Bakterien verursacht wird. Tatsächlich war auch sein bandagierter Körper bereits sehr glibbrig, und ein ständiges Brodeln, Blubbern und Glucksen sowie der Geruch von Schwefelwasserstoff ließ auf blasenbildende Vorgänge in seinem Leibesinnern schließen.


Inzwischen waren Terpentin und seine Minister längst aus der Betäubung erwacht. "Ich werde", sagte der König," meinem Propagandaminister jetzt sofort hinterherschwimmen. Denn obwohl er sich mit lautem Krach von uns getrennt hat und mich nun veranlaßt, ihm durch die Gosse zu folgen, was meiner königlichen Würde völlig zuwiderläuft, betrachte ich ihn nach wie vor als meinen Busenfreund und sehe mich folglich verpflichtet, ihn vor dem gänzlichen Verderben zu bewahren." Die Stabilisationsminister beurlaubte er, da er ihre Hilfe im engen Rohrsystem nicht benötigte; den Professor jedoch behielt er in seiner Kapuze, denn er wollte seinen klugen Rat auch in der Unterwelt nicht missen.

Nachdem er, mit der Hutspitze zuerst, sich in den Schacht gelassen hatte, wurden sie mit dem Abwasser davongeschwemmt. Mit einem Mal aber - sie hatten bereits zahlreiche Kanalkreuzungen und -Abzweigungen passiert - kamen sie zum Halt. Als Terpentin rückwärts kriechen und schwimmen wollte, merkte er, daß seine Hutspitze sich in eine feste Masse eingebohrt hatte und er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Da fragte er den Wissenschaftsminister: "Was können wir tun, um unsere Reise fortzusetzen ?"

Dieser fummelte kurz an seinem Taschenrechner und sagte dann: "Wie aus meinen Berechnungen hervorgeht, ist unsere Lage äußerst bedenklich. Der Pfropf nämlich, in dem deine Hutspitze steckt, besteht aus Bakterien der Art Zoogloea ramigera, welche dazu neigen, gelatinöse Massen zu bilden und dadurch die Kanalisation zu verstopfen. Durch unsere Körperwärme wird die Vermehrung dieser Bakterien noch beschleunigt, sodaß die Masse deinen Hut immer fester umschließen wird. Besonders gefährlich aber für uns ist, daß, bedingt durch einen unzulässig hohen Gehalt an industriellen Schadstoffen, noch andere Spezies von Bakterien hier vorzüglich gedeihen, nämlich Vibro estuarii, Vibrio desulfuricans und Vibrio thermodesulfuricans. Diese erzeugen in großer Menge Schwefelwasserstoff, welcher nicht nur bestialisch nach faulen Eiern riecht, sondern zudem geeignet ist, uns in kürzester Zeit tödlich zu vergiften.

Es gibt aber", so fuhr er nach einer Pause der weiteren Berechnung fort, "eine Möglichkeit, den Gelatineverschluß zu zerstören. Wie sich nämlich aus der Echolaufzeit ableiten läßt, eignet dem Raum hinter dem Kanalpfropf eine Resonanzfrequenz von zirka 315 Hertz. Diese tritt als Formant in allen gesprochenen Worten auf, welche den Vokal "u" enthalten, wie etwa Hut, Wut, Gut und so fort. Wird ein solches Wort ausgerufen oder auf andere Weise ein Tuten erzeugt, so wird der besagte Formant durch die akustischen Verhältnisse derart verstärkt, daß er den Gelatinepfropf sicher zersprengen wird."

Sie riefen nun mit Leibeskräften "tut !", "Hut !" und "Gut !", aber nichts geschah. Das ist auch verständlich, denn die berechnete Resonanzfrequenz bezog sich ja auf den Raum hinter dem Gelatinepropf; dieser aber ließ ihre Rufe nur sehr abgeschwächt hindurch. "Immerhin", so beschwichtigte der Wissenschaftsminister seinen strengen Dienstherrn, "besteht die Möglichkeit, daß jemand von der anderen Seite uns hört und, um uns zu äffen, die gleichen Worte zurückruft und damit das befreiende Ereignis auslöst."


Wie wir gehört haben, hatte der Klärmeister vor Sirup derweil sein philosophisches System ausgebreitet. Dieses endete mit einer trotzigen Selbstanklage, aus der hervorgeht, daß er sich für wertlos erachtete, in diesem Mangel aber auch wiederum einen Wert sah, den es gegen eine mögliche Widerlegung zu verteidigen gelte. Obwohl wir nun anzunehmen hätten, daß der Klärmeister seine Rede in völliger Selbstzerknirschung geendigt habe, war dies tatsächlich nicht der Fall; vielmehr zeigte sein Gesicht jetzt alle Zeichen der friedlichen Entspannung, ja der heiteren Gelöstheit. Der Grund hierfür war, daß er alle seine seelischen Schadstoffe, die sein Gemüt vergifteten, mittels seiner Rede von sich ab- und seinem Zuhörer entgegengeworfen hatte. Somit war er nun selbst - freilich auf Kosten seines Zuhörers - hiervon gereinigt.

Dennoch dürfen wir nicht behaupten, der Klärmeister sei schlichtweg ein Unhold gewesen. Nein, im Grunde war er vielmehr ein Ästhet, ein Schöngeist, der nur im vergeblichen Kampfe gegen Schmutz und Häßlichkeit sich selbst - und vor Allem Andere - verzehrte. Insbesondere seine Lyrik verdient hier noch erwähnt zu werden. Bevor er Sirup - dem übrigens nicht anzusehen war, ob er den philosophisch-erbsündentheologischen Ausfluß rezipiert hatte - endgültig dem Großen Alchymischen Werk zu opfern gedachte, trug er ihm noch etliche seiner schönsten Gedichte vor. Das Echo, welches ein gebildetes Publikum ihm immer verweigert hatte, hier aber aus dem Abwasser-Sammelkanal zurückscholl sowie ein bestimmter Vokal, der infolge der Raumresonanz verstärkt herauszuhören war, erregte zunehmend seine Experimentierfreude. Zuletzt stellte er sich unmittelbar vor die Öffnung und zelebrierte lautstark die folgenden Verse:

"Aus des wilden Andrangs schwarzer Fluten /
Hör' ich es von Weitem tuuuuuuuuten !"

Das letzte Wort betonte er besonders und horchte gespannt auf den Nachhall, der sich diesmal erstaunlich in die Länge zog, ja, so schien es, gar nicht mehr aufhören wollte. Im Gegenteil, er schwoll an zu einer wahren Flut, und schließlich kam, gefolgt von einer schwarzen Flutwelle, König Terpentin hervorgeschossen. Es versteht sich, daß sein Hut den Klärmeister durchbohrte und dieser somit auslief. Bedauerlich war das nicht; denn abgesehen davon, daß er jetzt unschädlich war, sah er jetzt appetitlicher aus als zuvor.

Währenddessen hatten die Stabilisationsminister in banger Sorge auf die Rückkehr ihres Königs gewartet. Als sie es schließlich tuten hörten, glaubten sie dies als ein Signal auffassen zu müssen und stiegen sofort in den Schacht. Kurz darauf erschienen sie im Werk, zogen den Klärmeister von Terpentins Hut ab und richteten diesen auf. Nachdem der König sich den Durchbohrten aufmerksam betrachtet hatte, sagte er: "Dies ist eine merkwürdige Gestalt; sie erinnert mich ihrer Bandage wegen an eine altägptische Mumie. Laßt sie uns dort in das fensterlose runde Gebäude tragen" - er meinte den Faulturm - "und sie daselbst bestatten."

Er wurde nun auf den Rost gestellt, wo er früher die Stellung der Sphinx eingenommen hatte. Aus Kupfer und anderen Schwermetallen, die sich im Abwasser sowie im Rüttelsieb fanden, wurde eine Bronzemaske geschmolzen und der Mumie aufgebunden. Wie er jetzt so aufrecht stand, sah der Klärmeister tatsächlich so aus wie der ägyptische Totengott Osiris, der er schon zu Lebzeiten hatte sein wollen, und sein Anblick war dementsprechend ehrfurchtgebietend.

Nachdem König Terpentin die Mumie somit bestattet hatte, begab er sich mit seinem Gefolge aufs Neue in die Kanalisation, um den nächsten Schacht aufzusuchen; denn die Tore des Klärwerks waren verschlossen und somit nicht passierbar.


Anmerkung:
Wir müssen in diesem Zusammenhang der Tatsache gedenken, daß der Klärmeister trotz einiger sehr unangenehmer Eigenschaften, über die er zu Lebzeiten verfügt hatte, im Grunde doch ein gewissenhafter und verantwortungsvoller Mann gewesen war; vor Allem aber, daß er über die eng gezogenen Grenzen seines Metiers hinausgeblickt und die universalen, kosmischen Bezüge mit in Betracht gezogen hatte.

In Erinnerung an den letzten Abschnitt seiner philosophischen Rede sei noch dies Folgende gesagt. Nachdem er Terpentin die Stirn geboten - dies geschah freilich mehr aus Versehen - und dafür mit seinem unansehnlichen Leben bezahlt hatte, wurde er tatsächlich in seiner behaupteten Wertlosigkeit widerlegt. Sein ausgelaufener Körperinhalt nämlich enthielt genau diejenigen Bakterienstämme, welche das Klärwerk brauchte, um seine Aufgabe zu erfüllen; so daß von nun an, ungeachtet aller industriellen Schadstoffe, kristallklares Trinkwasser die Anlage verließ. Des Weiteren zersetzten sich die Leichen im Faulschlamm, über die er nun als Totengott richtete, geruchlos und flossen ein in das paradiesisch saubere Abwasser. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Klärmeister, der zu Lebzeiten an seiner speziellen Erbsündentheorie verzweifelte, erst durchbohrt werden mußte, um das Klärwerk neu erstehen und leben-erhaltendes Wasser fließen zu lassen.