Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

4. Kapitel: Wie der Sandmann (hinter welchem sich der sackleibige päderastische Erziehungssenator verbirgt) schon während der zweiten Krisensitzung beinahe geplatzt wäre.

Es war bereits Abend geworden, als man in den Straßen jener Stadt, in deren Rathaus das erwähnte Normalkomitee zu tagen pflegte, eine merkwürdige Gestalt beobachten konnte. Auffällig war zunächst ihre Fortbewegungsart, die an einen stetig sich voranwälzenden Sandsack erinnerte. Sodann fielen die prall und faltenlos gespannten Hosenbeine ins Auge, welche unförmig dicke Schenkel beinhalten mußten und mit stählernen Spannringen über den Stiefelschäften festgezogen waren.

Überdies schien der Sackleibige bestrebt, sich möglichst ruhig und erschütterungsfrei voranzubewegen; denn mußte er, bedingt durch Stockungen des Fußgängerstroms, plötzlich anhalten oder die Richtung ändern, ging sogleich ein Ruck durch seinen Körper, und dieser schien nun an den Schultern viel schmaler, an den Beinen dafür aber umso dicker, als sei etwas in ihm nach unten gerutscht. Der wandelnde Sandsack pflegte sich dann an den Gürtel zu greifen, der wie ein Stahlreif seinen Leib umspannte, und, während er gleichzeitig mit den Knieen ruckte, diesen kräftig nach oben zu ziehen, worauf sich die ursprüngliche Verteilung seines Körpervolumens wieder herstellte.

Schließlich mußten einem jeden Beobachter noch die zahlreichen Flicken auffallen, welche die Hose vor allem nach unten zu bedeckten und wie diese selbst aus ungewöhnlich dickem, dazu noch mehrfach aufeinandergelegtem Sackleinen bestanden. Aus der Tatsache, daß er jedesmal, nachdem er sich gezwungenermaßen hatte zurechtrucken müssen, sorgfältig, ja ängstlich einige dieser Flicken abtastete, läßt sich ableiten, daß er den Zusammenhalt seiner Kleidung und damit auch seines Körpers durch jede Erschütterung ernstlich bedroht sah.

Der Sackleibige betrat nun das Rathaus, wo er zur zweiten Krisensitzung des Städtischen Normalkomitees erwartet wurde. Soeben wurden Sektgläser angestoßen, und es erschollen Rufe wie "Hoch lebe die Stadtnorm", "Nieder mit Sirup und König Terpentin" und "Viel Erfolg unserem Kollegen Spitzel". Mit verdrossener Miene nahm der soeben Eingetretene Platz. Hinter ihm an der Wand, neben einer Sandschippe, einem Besen und mehren ineinandergestellten Eimern, lehnte gelangweilt ein Bediensteter mit Schutzbrille; etwas weiter in der Ecke saß eine Frau hinter einem kleinen Tisch, worauf sich eine Nähmaschine befand sowie ein Stapel vorgefertigter Sackleinenflicken.

Der Sandsack ließ den Sekt, der ihm soeben eingeschenkt worden war, stehen und schaute unverwandten Blicks zum Fenster hinaus. Seinem Beispiel folgten die Andern aus der Runde, und nun gewahrten auch sie am Horizont jenen irisierenden Lichtschein vor einem spitzen roten Objekt, das, je tiefer die Abendsonne sich dem Horizont zuneigte, desto höher in den Himmel aufragte.

Während einer geraumen Weile wurde kein Wort mehr gesprochen; eine beklemmende Stille breitete sich im Saale aus und der Sekt schien in den Gläsern eingefroren.

"Ja," schrie der Sandsack plötzlich los, "da können wir nicht einfach tatenlos in die Landschaft gucken ! Terpentin oder wie dies Monster an Überspitztheit und Verstiegenheit sich nennt, wird auf uns zukommen und, meine Herren Stadt- und Normväter, wir müssen etwas gegen ihn unternehmen, bevor es zu spät ist !"

Er begann sich dermaßen zu ereifern, daß er nicht mehr auf die Erschütterungen achtete, welche seinen Körper schubweise immer mehr zu einer Birne verformten. Die Folge war, daß der Bedienstete plötzlich sich aufrichtete und mit heftigen, beschwörenden Gesten die Ratsleute zu ebenso beschwörenden Blicken veranlaßte, welche sich nun auf den Sackleibigen richteten. Dieser hielt tatsächlich in seiner Erregung inne und ruckte seinen Leib wieder in die normale Gestalt zurecht. Dann aber atmete er auf, als sei er soeben einer großen Gefahr entronnen, und auch aus der Runde hörte man Aufatmen und die halblaut gesprochenen Worte: "Das ist noch einmal gutgegangen !"

In nunmehr sehr verhaltenem Tonfall setzte er seine Rede fort. "Ich als Senator für Erziehung", sagte er, "kann es nicht zulassen, daß jemand mit einem so hohen und spitzen Hut herumläuft. Denn: je höher der Hut, desto niedriger die Beweggründe seines Trägers; und je spitzer das Objekt, desto stumpfer das moralische Empfinden seines Besitzers. Diese Formel, meine Herren Stadt- und Normväter, mag manchen von euch überspitzt, ja verstiegen anmuten, und doch gibt allein sie uns die Handhabe zur Beurteilung des in Frage stehenden Sachverhalts. Bedenken wir nur einmal die Wirkung dieser Erscheinung auf Jugendliche vor der Geschlechtsreife, vor allem auf unreife Mädchen: sie muß eine verheerende sein.

Natürlich wäre es Unsinn, jenen gewissen -" der Erziehungssenator stockte für einen Moment der Verlegenheit - "nun, sagen wir, gewisse Körperteile zu verleugnen oder gar völlig zu beseitigen, vor allem mit Hinblick auf unsere Existenz im Allgemeinen. Doch muß es nicht nur unser persönliches Empfinden, sondern vor Allem auch die Stadtnorm in gravierender Weise verletzen, wenn jemand dieses gewisse Etwas oder ein Symbol desselben weithin sichtbar zur Schau stellt."

Während er innehielt, um mit einem ärgerlichen Ruck seine Körperform wieder zu normalisieren, ging ein lebhaftes Raunen durch die Runde, welches schließlich in Worten der einmütigen Zustimmung seinen endgültigen Ausdruck fand. Wir müssen uns nämlich darüber im Klaren sein, daß der Erziehungssenator vor den übrigen Stadtvätern in nicht geringem Ansehen stand.

"Davon ganz abgesehn", fuhr er fort, "kann ich alles, was spitz ist, auf den Tod nicht ausstehn." Mit ängstlicher Miene betastete er seine Hosenflicken. "Um nun auf den Kern der Sache zu kommen, müssen wir davon ausgehn, daß der eigentliche Unterschied zwischen normal und abartig nicht darin liegt, ob jemand gewisse - nun, sagen wir: päderastische - Bedürfnisse hat oder nicht hat, sondern, ob er diese für sich behalten kann oder aber demonstrativ hervorkehrt. Erziehung heißt nicht Aufklärung; Erziehung heißt Einsichten zurückhalten, Diskussionen und andre Erschütterungen vermeiden und, als letzte Möglichkeit, den Kindern Sand in die Augen streun, zumal vorm Schlafengehn. Ich habe hier eine Erzählung des an und für sich romantischen Dichters E.T.A. Hoffmann in der Hand, betitelt "Der Sandmann", worin geschildert wird, wie ein Kind durch eben diesen Sandmann in Angst und Schrecken versetzt und noch als junger Mann in die Geisteskrankheit getrieben wird. Aber, meine Herren Stadt- und Normväter, sehe ich denn wirklich so entsetzlich aus ?"

Wütend klatschte er das Buch auf den Tisch und rief, nachdem er seinen Leib wiederum heftig zurechtgeruckt hatte: "Wie spät ist es ?" Gleich darauf freilich schaute er auf seine Armbanduhr, womit er die Frage als überflüssig auswies, und schrie: "Schaltet den Fernseher ein !" Dem wurde Folge geleistet und über den Bildschirm lief die Sendung "Sandmännchen". Sie handelte von einer lustigen kleinen, völlig harmlos aussehenden Figur, welche anscheinend absichtslos in der Abenddämmerung herumspazierte und, nach einer Filmeinlage, den Zuschauern über einen Sprecher zuletzt "Gute Nacht" wünschte.

"Nun ?" rief der Erziehungssenator und schaute sich triumphierend in der Runde um, worauf ihm die Ratsleute anerkennend zunickten. "Ihr seht," fuhr er fort, "niemand würde aufgrund des Bildes, das seit jeher über mich verbreitet wird, auf den richtigen Gedanken kommen, daß ich ein Päderast bin, der den Kindern Sand in die Augen streut, um sie dann unbemerkt zu vergewaltigen. Gegen tote Aufklärer, wie Hoffmann es war, können wir freilich nichts mehr unternommen - abgesehen vielleicht von einer Bücherverbrennung. Was aber die noch lebenden Aufklärer betrifft," - seine Stimme hob sich - "so können wir ihnen immer noch Knüppel zwischen die Beine werfen !"

Mit dem letzten Satz ging ein Rutsch durch seinen Körper, der sich damit sofort dermaßen verformte, daß er unten wie ein aufgequollener Hefeteig, nach oben zu aber wie eine verrottete Vogelscheuche aussah. Entsetzt rückte der Bedienstete seine Schutzbrille zurecht und nahm die Sandschippe in die Hand, während die übrigen Zuhörer sich teilweise von ihren Sitzen erhoben; doch all dessen ungeachtet fuhr der Sackleibige fort: "Jawohl, meine Herren," schrie er, "ich werde Terpentin einen Knüppel zwischen die Beine werfen und ihn zu Fall bringen, und wenn ich selbst dabei kaputtgehe !" Tatsächlich wäre er schon mit diesem Satz beinahe geplatzt; doch noch im letzten Augenblick hatte er sich zurechtgeruckt und ein tiefes Aufatmen ging durch die Runde.

Eine ganze Weile später, es war mittlerweile bereits fast dunkel, wurde er in einem Hintergarten gesehn, wo er grade damit beschäftigt war, eine Leiter an ein Kinderschlafzimmerfenster anzusetzen. Seine Bewegungen waren langsam und vorsichtig, als wolle er jede Erschütterung sorgfältig vermeiden. Gegen Mitternacht aber wanderte er dem Lichtschein entgegen, der in dunkler, mondloser Nacht von Sirups Fäulnis zeugte; bald sah er auch den roten Hut schon mit den Fichten schwanken.