Die Stabilisationsminister entstiegen dem Schacht zuerst und brachten dabei auch den Propagandaminister mit an die Oberfläche. Als sie die Öffnung bis auf einen Spaltbreit wieder schlossen, kam gerade Kardinal Pöpfner vorbei. "Schon wieder ein Gasrohrbruch", kommentierte er die Ausdünstungen, die dem Erdreich entstiegen. "Wenn ich nicht so vernünftig eingestellt wäre," fuhr er fort, "würde ich wegen der Schwefelkomponente, welche dieser Geruch enthält, sogar vermuten, daß kein Geringerer als der Fürst der Unterwelt soeben das Tor zur Erdscholle durchbrochen hat und seine Hörner bereits hervorstreckt."
Vorsichtshalber wandte er seinen Blick in Richtung der höheren Gefilde, übersah dabei aber Terpentins Hutspitze, die sich soeben durch den Spalt geschoben hatte und jetzt hervorlugte. Die Folge war, daß sein Gewand bis weit über Kniehöhe in zwei Hälften gerissen wurde. Verständlicherweise war er darüber sehr verärgert und er versetzte der Spitze, die ihr Erscheinen nicht rechtzeitig angekündigt hatte, einen derben Tritt. Diese geriet dadurch in eine komplexe Schwingung, deren Analyse dem mathematisch ungeschulten Kardinal verschlossen blieb, und binnen eines Sekundenbruchteils wurde er wie durch einen Peitschenhieb in einen Haufen voll Bauschutt geschleudert. Nachdem er sich mühsam erhoben hatte, erfaßte ihn eine außerordentliche Wut, und er eilte zum Hut, zog mit Leibeskräften daran und schrie: "Komm raus, du Satan!"
Seine Erregung wandelte sich jedoch in Erstaunen, als er feststellte, daß das Objekt auch ohne sein Dazutun sich in die Höhe schob und somit seiner Aufforderung zu folgen schien. Bald kam die Ansatzstelle der Stabilisations-Seile zum Vorschein, welche von den Ministern sogleich ergriffen wurden, und schließlich stieg der König höchst persönlich aus dem Schacht hervor. Mit verschränkten Armen und finsterster Miene blickte er seinem Gegenüber ins Angesicht.
"Wie du richtig vermutet hast," sagte Terpentin, "bin ich der Fürst der Unterwelt; und ich will, daß jeder, der mir meinen Hut krümmt, in der Tiefe verschwindet!" Dann wies er mit strenger Miene auf die Öffnung, der er soeben entstiegen war. Als der Angesprochene zögerte, wurde er von den Stabilisationsministern gepackt und gewaltsam hinabgestoßen; denn auch sie konnten es nicht leiden, wenn jemand den Hut, den sie mühsam aufrecht halten mußten, ins Schwanken brachten.
Es brauchte mehre Stunden, bis Kardinal Pöpfner einen Kanaldeckel gefunden hatte, den er aus eigener Kraft anheben konnte, und als dies geschehen war, befand er sich im Keller des Rats- und Normhauses. Natürlich wäre er am liebsten sofort dem Gebäude entflohen und kürzesten Weges seiner Dienstwohnung zugeeilt, um sich zu waschen und umzuziehen, aber er war förmlich zur vierten Krisensitzung des Normalkomitees geladen worden und diese hatte längst begonnen. So entschuldigte er die Zerissenheit und Nässe seines Gewandes sowie den üblen Geruch, der ihm anhaftete, mit einem seelsorgerlichen Besuch bei einer sozial tiefstehenden Familie, was ihn freilich nicht vor Reaktionen des Kicherns und Naserümpfens bewahrte.
Indessen herrschte eine ausgelassene Stimmung, umd immer wieder knallten die Sektpropfen.
"Wie wir uns durch das Normal-Fernrohr überzeugt haben," erläuterte der Vorsitzende, "sind Sirup und König Terpentin im Klärwerk erschienen, plötzlich aber verschwunden. Da der Klärmeister Anweisung hatte, nach Eintritt der Gäste alle Tore zu schließen, darf also angenommen werden, daß die Normbrecher nunmehr in den Arbeits-, genauer gesagt in den Fäulnisprozeß eingegliedert sind und allenfalls ingestalt von Klärschlamm wieder auftauchen werden." Kardinal Pöpfner wollte etwas einwenden, doch seiner mitgenommenen Erscheinung wegen dauerte es eine geraume Weile, bis man ihm ernsthaft zuhörte und die Wahrheit über seine Abreibung zur Kenntnis nahm.
Sofort wurden die Sektgläser abgestellt und große Bestürzung überkam die Ratsleute.
"Leider", so äußerte der Vorsitzende nach einigen Minuten, "hat der Gerichtshof inzwischen entschieden, daß man das Tragen von hohen Hüten in geschlossenen Ortschaften nicht mehr verbieten darf, wenn der Hut mit seinem Träger eine untrennbare, organische Einheit bildet - es sei denn, es liegen weitere, schwerwiegende Gründe vor."
Für die nächsten Minuten war ein vielstimmiges Munkeln zu vernehmen. Dann erhob sich der Kardinal und sagte: "Wie wir alle wissen, ist in letzter Zeit die Zahl der Bildstörungen während unserer Fernsehsendungen ganz erheblich gestiegen." Viele fragende Blicke richteten sich auf ihn, doch bevor ihm jemand widersprechen konnte, fuhr er schnell fort. "Unmittelbar nach Übertragung des letzten Fußballspieles erreichte mich eine Flut von Anrufen gläubiger, aber auch ungläubiger Gemeindemitglieder, die mit der Frage rangen, ob Meier, Müller, Schmitt oder Schulze das letzte Tor geschossen habe. Ich konnte ihnen darauf keine Antwort geben, denn auch ich war ein Opfer jener verheerenden Bildstörung gewesen. Manche von euch mögen diese Angelegenheit für nebensächlich halten; ich aber bin der Überzeugung, daß auch und gerade ein gewonnenes Fußballspiel den Durchbruch zum Glauben erleichtern kann. Ich sage dies, meine Herren Stadt- und Normväter, ich sage dies in Sorge und warmer Anteilnahme für gerade jene unserer Mitbürger, deren geistliche und geistige Interessen - nun, sagen wir, noch nicht in ausreichendem Maße gefördert worden sind."
Für diese Aussage erntete er ungläubige Blicke, aber auch zustimmend-höhnisches Gelächter. "Wir möchten natürlich wissen," fuhr er fort, "wer oder was diese entsetzlichen Störungen verursacht. Jüngst befragte ich hierzu einen Techniker. Dieser antwortete mir, nicht der Teufel oder eine sonst eine irrationale Macht sei Ursache des Übels, welches daher auch nicht wie ein Schicksal hingenommen werden müsse, sondern zum Beispiel hohe, spitze, reflektierende Objekte, etwa Antennenmasten, die durch drei Seile abgestützt werden. Wer sie errichte und damit die Ton- und Bildübertragung beeinträchtige, verstoße gegen das Hochfrequenz-Gesetz und könne hierfür zur Verantwortung gezogen werden. Ich meine nun, wir sollten unverzüglich geeignete Maßnahmen gegen derartige Normbrecher einleiten, denn die Beeinträchtigung oder gar Unterdrückung von sachlicher Berichterstattung ist eines der Grundübel unserer Zeit."
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Runde, dankbare Blicke richteten sich auf den Kardinal, und die ersten Sektgläser wurden wieder aufgefüllt.
Nun aber erhob sich ein anderer Mann aus den Reihen. Sein Aussehen war ungewöhnlich, denn Rumpf und Gliedmaßen waren umhüllt von wulstigen Porzellanrohren, wie sie in Hochspannungsanlagen als Isolatoren Verwendung finden; auch auf dem Kopf trug er einen derartigen Isolator. Dieser war kegelförmig und erinnerte ein wenig an den Hut von Terpentin, nur daß er bei Weitem nicht an dessen Höhe heranreichte. An seiner Spitze war ein Band aus Kupfergeflecht befestigt, das über den Rücken bis auf den Boden herabhing und offenbar zur Ableitung statischer Aufladungen dienen sollte. Außerdem ist zu vermerken, daß die Porzellanrohre in steter Rotglut strahlten; denn ihr Träger hatte einen unersättlichen Hunger auf Ölsardinen, deren metabolische Umsetzung in seinem Körper eine gewaltige Hitze erzeugte.
"Ich als Direktor der Energie-Monopolgesellschaft", so begann er zu reden, "kann es nicht zulassen, daß eine Gestalt wie Sirup, die bei Tag und Nacht leuchtet, ziellos in der Gegend herumgetragen wird. Denn das bedeutet Energieverschwendung, ja, sinnlose, wahnwitzige Vergeudung kostbarster Energie!"
Binnen weniger Sekunden hatte er sich bis zur Weißglut erregt, sodaß die Umsitzenden schweißüberströmt von ihm abrückten. Obwohl alle Fenster bereits geöffnet waren, wurde die Hitze nun doch so unerträglich, daß einige Ratsleute sich bis auf die Unterhosen entkleideten, und selbst der Vorsitzende öffnete seine oberen Hemdknöpfe. All dessen ungeachtet schlang der Energie-Monopoldirektor in wütendem Heißhunger zirka siebzehn Büchsen Ölsardinen hinunter, bevor er in seiner Rede fortfuhr.
"Der gleiche Vorwurf ist aber auch gegen König Terpentin zu erheben. Gehen wir davon aus, daß vermöge der atmosphärischen Elektrizität eine Potentialspannung von 120 Volt pro Meter herrscht, gerechnet vom Erdboden aufwärts, so folgt daraus, daß an der Spitze eines 25 Meter hohen Hutes die Spannung bereits 3000 Volt beträgt. Deren Energie ist zwar unter normalen Umständen äußerst gering und praktisch daher kaum nutzbar; anders sieht es jedoch aus, wenn ein Gewitterblitz in den Hut schlägt, dessen Kilowattleistung bekanntlich in die Millionen gehen kann. Da die augenblickliche Wetterlage sich auf diese Möglichkeit hinzuentwickeln scheint, beantrage ich für genannte Person eine sofortige Verfügung, daß sie sich umgehend nach Überschreiten der Stadtgrenze zwecks Stromabgabe in meinem Elektrizitätswerk zu melden hat."
Nachdem der Porzellanmensch sich abgekühlt hatte, wurde ihm lebhafte Zustimmung zuteil, die sich alsbald zu donnerndem Beifall steigerte. Darauf erhob er sich noch einmal und wandte sich mit einer Miene, die gewachsenes Selbstwertgefühl verriet, an den Vorsitzenden.
"Übrigens", so hub er an, "beantrage ich hiermit zugleich, daß die Netzspannung von bisher 220 Volt auf 15.000 Volt angehoben wird. Das ist, rein technisch gesehen, zwar unnötig, ja es erfordert neue Verbrauchergeräte und einen erheblichen Mehraufwand an Kabel-Isolation. Aber es erhöht auch unser Prestige. Und sollte sich die nötige Isolation bei Haushaltsgeräten als undurchführbar erweisen - nun, dann müssen wir eben die Menschen isolieren. Ihr seht ja an mir, daß das geht."
Zur Bekräftigung, doch unbedacht, machte er eine heftige Armbewegung. Dabei verursachte das Aufeinanderscheuern zweier der ihn umhüllenden Porzellanrohre einen äußerst schrillen Ton, der alle Anwesenden, ihn selbst nicht ausgenommen, wie elektrisiert zusammenzucken ließen. Sofort schaute er nach unten, um sich zu vergewissern, daß sein Kupferband noch Kontakt mit dem Fußboden hatte. "Natürlich", fügte er etwas verlegen hinzu, "bedeutet eine solche Maßnahme ein gewisses Sicherheitsrisiko, doch bin ich anderseits überzeugt," - seine Stimme nahm wieder einen selbstsicheren Ton an -, "daß in der steten Konfrontation mit dem Unwägbaren, mit dem Existenziell-Schicksalhaften eine erzieherische Kraft zur Entfaltung kommen kann, welche uns den Respekt und die Ehrfurcht vor Sachzwängen wieder zur Aufgabe, ja zur sittlichen Entscheidungsfrage werden läßt. Ich glaube, meine Herren Stadt- und Normväter, daß ich mit Kardinal Pöpfner hierin völlig einiggehe."
Dem stimmten die Sitzungsteilnehmer zu. Währenddessen hatte ein Blick durch das Fernrohr ergeben, daß die Normbrecher nicht mehr weit von der Stadtgrenze entfernt waren. Rufe wie "Nieder mit Sirup und König Terpentin" und "Hoch lebe die Stadtnorm" erschollen aus der Runde, und der Vorschuß-Sekt floß in Strömen.
Tatsächlich passierte der König mit seinen Ministern bald darauf den Schlagbaum, der die Stadt vom übrigen Landesgebiet abtrennte. Dort wurde ihm ein Brieftelegramm des Vorsitzenden des Normalkomitees überreicht mit der Auflage, zwecks Stromabgabe sich sofort beim Städtischen Elektrizitätswerk zu melden, andernfalls er mit Ordnungsstrafen und Zwangsmaßnahmen zu rechnen habe. Da er mit dergleichen Verordnungen, wie wir wissen, schon mehrmals behelligt worden war, und sein Busenfreund Sirup ebenfalls, geriet er nunmehr in einen furchtbaren Zorn.
"Ich als König", rief er, "kann es nicht zulassen, daß ein Mensch, dessen Gesamthöhe weniger als 25 Meter, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal ein Zehntel davon beträgt, sich derart überheblich gebärdet. Bevor ich ihm persönlich gegenübertrete, was geschehen wird, sobald ich meinen Geheimrat wiedergefunden und mein Kabinett somit vervollständigt habe, soll er von mir die passende Antwort erhalten, damit er zur entscheidenden Stunde nicht sagen kann, daß unsere Forderung nach einem Königreich für ihn überraschend komme." Und er brachte folgende Sätze zu Papier:
Der Unverschämtheit und gänzlichen Vermessenheit deiner Ansinnen, welche du gegen mich hervorbringst;
Der bornierenden Sturheit, in der du dieselben unausgesetzt wiederholst;
Der hochmütigen Herablassung, welche in deinem Beamtendeutsch zur Geltung kommt;
Der Respektlosigkeit und Frechheit, welche dich veranlaßt, mich unverhohlen zu beleidigen und zum Narren zu halten;
Endlich der beispiellosen Anmaßung und Überheblichkeit, der erschrecklichen Unehrerbietigkeit, Unhöflichkeit und Unverfrorenheit in allen deinen Worten
"Selbstverständlich", so sagte er dann, "werden wir die Aufforderung dieses Normal-Beamtentrottels ignorieren. Laßt uns stattdessen unverzüglich zum Psychiater ziehen und dort nach dem Verbleib unseres Geheimrates fragen; denn ich mache mir bereits Gedanken, was diesem durch jenem vielleicht schon widerfahren ist."