Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und Terpentin.

10. Kapitel: Wie König Terpentin den Schildplattenpsychiater anläßlich eines Gewitters in eine harmlose Panzerechse verwandelte und damit den Energie-Monopoldirektor in die Flucht schlug.

Inzwischen hatte der König mit seinen Ministern das Domizil des Psychiaters erreicht. Da die Tür verschlossen, die Klingel abgeschaltet und das Gebäude somit nicht zu betreten war, kletterte schließlich einer der Stabilisationsminister die kahle Fichte im Hintergarten hinauf und sah im vierten Stock das Schildplatten-Ungeheuer mit dem Rücken zum Fenster sitzen; neben ihm war das Prokrustesbett mit dem angeschnallten Geheimrat zu erkennen. Nachdem Terpentin hierüber aufgeklärt worden war, fragte dieser seinen Wissenschaftsminister: "Was können wir tun, um Spitzel zu befreien und den Psychiater gehörig zurechtzuweisen?"

"Im Wesentlichen brauchst du nichts zu tun als zu warten", antwortete der Professor. "Wie nämlich aus meinen Berechnungen, die ich soeben angestellt habe, hervorgeht, wird binnen kürzester Frist ein Gewitter heraufziehn. Sobald die Wolken genau über uns stehn, wird, angezogen durch deinen spitzen, roten Hut, ein Blitz herunterschießen, welcher für eine Zeit von 19 Millisekunden ein Spannung von zirka 400 Millionen Volt und eine Stromstärke von 122 Kiloampère erreicht. Wenn du dich vorher auf einen Porzellansockel stellst und deinen Hut sowie eines deiner Stabilisationsseile dadurch leitfähig machst, daß du beide mit Graphitstaub aus einer Sprühdose bestäuben läßt, sodann das leitfähig gemachte Seil an der Armlehne des Stuhles befestigen läßt, auf dem, mit dem Rücken zum Fenster, der Psychiater Platz genommen hat, dann kannst du ihm auf diese Weise einen Elektroschock versetzen, welcher in der Geschichte der Schockbehandlung zweifellos einen Markstein setzen wird.

Nun ist allerdings noch in Betracht zu ziehn, daß der Psychiater über einen Panzer verfügt, der in seinen Isolationseigenschaften Stoffen wie Formaldehyd-Epoxydharz, Zellulosetriazetat, Nitrilkautschuk und andere Materialien entspricht, die der Isolationsklasse E zugeordnet sind und in Höchstspannungs-Versuchsanlagen Verwendung finden. Im Gegensatz jedoch zu diesen Stoffen, welche durch einen Blitzschlag der genannten Größenordnung sofort zerstört würden, wird der psychiatrische Hornpanzer, da sein Träger in dem Blitz instinktiv einen Gegner erspürt, sich im Augenblick des Einschlages noch einmal kompensativ verdicken, so daß der Normwächter im Ergebnis nur kurz mit der Hand zucken wird, als wolle er damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen.

Indessen", so fuhr der Professor fort, "braucht uns dies nicht weiter zu beunruhigen. Nur zweieinhalb Sekunden später wird nämlich ein zweiter Blitz einschlagen, welcher es auf eine Spannung von knapp einer Milliarde Volt und einer Leistung von 731 Gigawatt bringen wird. Es steht außer Zweifel, daß dieser den Psychiater, allen Kompensationsreflexen zum Trotz, schlagartig in ein unschädliches Abfallprodukt verwandeln wird."

Sofort befahl König Terpentin seinen Stabilisationsministern, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Man war auch gerade damit fertiggeworden, als unmittelbar darauf der erste Blitz in Terpentins Hut einschlug. Anschließend lag das Haus des Psychiaters in Trümmern; lediglich der Kamin und mit ihm ein winziger Fußbodenvorsprung des ehemals vierten Stockwerks war verblieben. Auf diesem fand, mit zwei Beinen haarscharf an der Kante, gerade noch der Stuhl des Psychiaters Platz; dieser selbst aber, nunmehr mit sehr verdicktem Hornpanzer, in Haltung und Ausdruck aber nahezu ungerührt und mit gleichbleibend höhnischem Grinsen, machte soeben eine verächtliche Handbewegung.

Nachdem auch der zweite Blitz eingeschlagen und der aufgewirbelte Staub sich halbwegs gelegt hatte, sah man zwischen den Trümmern zunächst eine Schuhspitze hervorlugen. Da die Seilwinde, welche der Psychiater für die zweite seiner Behandlungen benutzt hatte, direkt unter dem Dachboden befestigt gewesen war, machte es jetzt keine Schwierigkeit, sie hervorzuholen und mit ihrer Hilfe den einen Fuß des Geheimrats auf die Trommel zu spulen, bis dieser vollständig aus der Verschüttung befreit war. Da er vor Nervosität sehr zitterte, fiel auch sogleich aller Staub von ihm ab.

Etwas später sah man zwischen den Mauerbrocken eine etwa halbmeterlange, äußerst bizarre Panzerechse hervorkriechen, die mit ihrem winzigen Kopf und den dafür umso größeren Knochenplatten, welche sich in zwei Reihen über den ganzen Körper hinweg bis zum Schwanzende erstreckten, deutlich an einen verkleinerten Stegosaurier aus der Zeit des Mesozoikums erinnerte. Hierbei handelte es sich um eine Kompressionsform des Psychiaters oder, wie der Wissenschaftsminister angekündigt hatte, um ein unschädliches Abfallprodukt desselben. Tatsächlich war das Tier völlig harmlos, da es sich ausschließlich vegetarisch ernährte, niemanden angriff und, wie sich später herausstellte, leicht zu dressieren war.

Terpentin sah sich dies Wesen lange Zeit aufmerksam an. Dann sagte er: "Da die Isolier-Eigenschaften dieser Echse besser sein dürften als die aller bisher bekannten Stoffe, halte ich es für angebracht, wenn wir mit ihr, entgegen unserem ursprünglichen Vorhaben, zum Elektrizitätswerk gehn. Falls irgend jemand dort nämlich auf die Idee kommen sollte, die Netzspannung drastisch zu erhöhen, so könnte diese Echse durch Kreuzung mit Nashörnern und Schildkröten zur Züchtung von Tieren herangezogen werden, welche die nötigen spannungsfesten Materialen erzeugen."


Doch als sie das Werk erreicht hatten - es befand sich auf dem höchstgelegenen Gebiet innerhalb der Stadt - wurde ihnen bekanntgegeben, daß die Isolier-Echse nicht angenommen werden könne, weil der Energie-Monopoldirektor, der allein solch schwerwiegenden Entscheidungen treffen könne, soeben seinen lange geplanten Urlaub angetreten habe.

In Wahrheit war das Folgende geschehen: Der Donner, welcher durch den zweimaligen Blitzschlag in Terpentins Hut erzeugt wurde, sowie der Lärm, unter dem das Psychiater-Haus zusammenbrach, war so gewaltig gewesen, daß nicht nur in der unmittelaren Nachbarschaft Fensterscheiben zersprangen, sondern auch die isolierenden, glühenden Porzellanrohre, welche Rumpf und Gliedmaßen des Energie-Monopoldirektors umhüllten, zu Bruch gingen. Als dieser dann den König, in dem er zurecht den Urheber des für ihn entsetzlichen Geschehens erblickte, zu sich heraufsteigen sah, die Isolier-Echse im Anhang, hielt er es für unumgänglich, sich in einen Faraday'schen Käfig einzusperren, um sich vor elektrischen Angriffen zu schützen. Damit nicht genug, ließ er die Drahtkugel, in der er nun steckte, an eine der Hochspannungs-Freileitungen hängen, wo ihm, so hoffte er, jetzt niemand mehr zu nahekommen würde.

Als der König und seine Minister nun die Köpfe hoben, sahen sie den Monopoldirektor grade auf der Abreise. Dadurch nämlich, daß die Landschaft und somit auch die Freileitung abschüssig verlief, glitt der Käfig von Mast zu Mast an dem durchhängenden Seil entlang, womit seine Fortbewegung ein wenig an die eines Dschungelhelden erinnerte, der sich an Lianen von Baum zu Baum schwingt. Es versteht sich übrigens, daß der Monopoldirektor einen Koffer voller Ölsardinenbüchsen mitgenommen hatte, sodaß er auf seine Ausstrahlung auch in den höheren Gefilden nicht zu verzichten brauchte.


Indessen hatte der zweimalige Donnerknall auch den Vorsitzenden des Normalkomitees zu einer Reaktion veranlaßt. Diese bestand darin, daß er sofort eine Krisensitzung, die fünfte nämlich, einberief. Als nun der Blick aus dem Fenster ergab, daß König Terpentin mit seinem Gefolge zum Elektrizitätswerk marschierte, ließ man die Bürger über Funk und Lautsprecher aufrufen, sofort die Stadt zu verlassen, und zwar in Richtung Talsenke. In Anbetracht des befreiten Geheimrates und der erbeuteten Panzerechse hielt man es nämlich für nicht ausgeschlossen, daß die Normbrecher zurückkommen könnten. "Allerdings ist dieses eher unwahrscheinlich," frohlockte der Vorsitzende, "denn der Direktor der Energie-Monopolgesellschaft hat bisher noch immer über mehr Energie verfügt als alle seine Gegner."

Die voreilig aufgefüllten Sektgläser wurden jedoch gleich wieder abgestellt, als man den Monopoldirektor im Faraday'schen Käfig über die Landschaft gleiten sah. "Mir scheint, ich bin hier von lauter Flaschen umgeben, von Unfähigen, ja von Verrätern", schrie der Vorsitzende wütend. "Ich werde jetzt tun, was ich schon längst hätte tun müssen, nämlich den Notstand ausrufen, alle verfügbaren Polizeikräfte mobilisieren und die Normbrecher, sobald sie bei mir eingetroffen sind, festnehmen lassen. Es ist nämlich ohnehin so gut wie sicher, daß sie jede Arbeit verweigern, dafür aber unverschämte Forderungen stellen werden, nicht nur nach Arbeistlosengeld, sondern vielleicht sogar nach einem Königreich."