Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und Terpentin.

11. Kapitel: Wie der Propagandaminister, allen Warnungen zum Trotz, auf die Stadt losgelassen wurde und dort die Amtsakten in eine wohlschmeckende Masse verwandelte.

Nachdem König Terpentin mit dem Energie-Monopoldirektor einen seiner mächtigsten Feinde in die Flucht geschlagen hatte, ordnete er an, daß die Panzerechse an eine Leine gebunden und dem Geheimrat, der seine Füße wieder unter dem langen schwarzen Mantel verbarg, zur Obhut übergeben werde. "Wir werden nun", sagte er, "gradlinig zum Rathaus marschieren und dort unser Königreich fordern. Dabei wird es von Vorteil sein, wenn wir unseren Propagandaminister voranschicken, damit er das Normalkomitee in geeigneter Weise auf unser Kommen vorbereite." Dann ließ er den Karren aus seinen Händen gleiten. Dieser rollte, da die Straße abschüssig war, gradewegs auf das Rathaus zu.

"Um Himmels Willen!" rief der Wissenschaftsminister aus. "Wenn der Karren zum Stillstand kommt, was sehr wahrscheinlich durch den Aufprall auf ein Hindernis geschehen wird, dann wird auch die Käseglocke über Sirup derart in Erschütterung versetzt, daß sie zumindest einmal hochspringen wird. Nun aber haben sich, bedingt nicht zuletzt durch den Aufenthalt im Klärwerk, die gefährlichsten Fäulnisgase darunter angesammelt; nach meinen Berechnungen nicht nur Methan, Ammoniak, Indol, Skatol, Cadaverin, Schwefelwasserstoff, Acetylmethylcarbinol, Tetramethylendiamin und ß-Methylmerkaptanpropionaldehyd, sondern weitere Stoffe, deren Bezeichnungen so kompliziert sind, daß ich sie trotz meiner vielen Schmierzettel kaum noch aufsagen kann.

Mit Hinblick auf den ungeheuren, längst nicht mehr zu verantwortenden Überdruck, unter den diese Gase inzwischen stehn, läßt sich nun ohne Weiteres ableiten, daß ihr Freiwerden verheerende Wirkungen haben muß. Selbst wenn wir die Möglichkeit einer sofortigen explosiven Entzündung oder einer die ganze Umgebung erfassenden Schimmelpilzverseuchung einmal ausklammern, so ist doch darauf hinzuweisen, daß allein die chemische Aggressivität dieser Stoffe jegliches Papier, also auch alle Akten des Bürohauses, in eine zwar wohlschmeckende, ansonsten aber unbrauchbare Sirupmasse verwandeln wird. Mit anderen Worten, alle Dokumente wissenschaftlicher Berechnung und behördlicher Registrierung werden vernichtet."

Erschöpft ließ er seinen Wuschelkopf auf Terpentins Schulter fallen und griff in dessen Manteltasche, um einen Schluck aus der Gehirnnahrungsflasche zu nehmen. "Um dieser Katastrophe zuvorzukommen," so fügte er hinzu, "bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen sofort hinter Sirup herrennen und ihn anhalten."

Doch der König war nicht geneigt, dieses Denkergebnis auszuwerten und sein Tempo zu beschleunigen. "In Anerkenntnis deiner außerordentlichen Klugheit", antwortete er, "zweifle ich nicht, daß es so kommen wird, wie du berechnet hast. Indessen bin ich der Meinung, daß jeder bedeutende Mann, wie auch ich es vermöge meiner königlichen Hoheit bin, sich durch ebenso bedeutende Ereignisse ankündigen sollte, bevor er die Stätte seines zukünftigen Wirkens betritt. Außerdem: Gehen wir schneller als jetzt, so ist die Gefahr keine kleine, daß der Geheimrat mir auf die Hacken tritt und mich dadurch ins Schleudern bringt."

Doch den Professor beruhigte das nicht. "Das Schlimmste von alldem", so jammerte er, "ist, daß nicht nur alle Akten sich in Sirupmasse verwandeln werden, sondern daß darüber hinaus auch jegliches Holz, also sämtliche Büroschränke und Schreibtische zufolge eines komplizierten chemischen Prozesses vergären und sich in Alkohol auflösen. Aufgrund der Verdunstung des Alkohols aber werden nicht nur alle Beamten, sondern auch die übrigen Bewohner der Stadt in kürzester Zeit betrunken sein, so daß an eine Wiederherstellung der Akten auf lange Sicht nicht mehr zu denken ist. Im Gegenteil, die Entstehung noch weiterer berauschender Substanzen wie Chloroform und Lysergsäurediäthylamid ist zu befürchten. Die schreckliche Folge aber wird sein, daß die Leute sich zwar - im Gegensatz zu früher - wohlfühlen, aber keine Lust mehr zu sinnvollen und zweckmäßigen Tätigkeiten verspüren, wie es das Registrieren, Rubrizieren, Messen, Quantifizieren und Berechnen ist."

"Schweig!" entgegnete Terpentin streng. "Und solltest du das Wirken meines Busenfreundes Sirup noch einmal mit irgendwelchen schrecklichen Folgen in Verbindung bringen, so werde ich dir deine Gehirnnahrungsflasche mit rauchender Schwefelsäure auffüllen, um alle überflüssigen Gedanken aus deinem überdimensionalem Wuschelkopf hinauszublasen."

Wenige Minuten später sahen sie, wie Sirup, der auf seinem Handkarren dem vielstöckigen Arbeitsamt und Bürohaus geradewegs entgegengerollt war, an dessem Mauerwerk zum Stillstand kam. In diesem Augenblick nämlich erschien, wie unter sommerlichen Luftschlieren, das ganze Stadtbild verschwommen, weil durch das plötzliche Freiwerden der unter der Käseglocke angestauten Fäulnisgase ein rascher Druckausgleich mit der umgebenden Luft einsetzte. Nach einigen Sekunden der Schallverzögerung war das entsprechende Geräusch ingestalt eines dumpfen "Puff!", gefolgt von mehren Echos, zu vernehmen. Nicht lange danach trug ihnen der Wind den Schwall eines infernalischen Gestanks entgegen, und ungefähr gleichzeitig begannen auch die ersten Häuser und Straßen sich zu verfärben.

Als König Terpentin und seine Begleiter den Stadtkern erreicht hatten, trafen sie keine Menschen an; stattdessen sahen sie sich versetzt in eine fantastische, bizarre Traumlandschaft. Jegliches Gemäuer, Pflaster und was sonst vorher grau gewesen war, prangte nun, bedingt durch die Einwirkung von Sirups Fäulnisgasen, in den erstaunlichsten Farben: Heliogenblau; Kadmiumgelb; Alizarinrot; Chromoxydgrün; Kobaltviolett und viele andere. Zufolge der Zersetzungs- und Verflüssigungsprozesse waren auch fortwährend sonderbare Geräusche zu vernehmen - es blubberte, brodelte, gluckste, gurgelte, röchelte, tröpfelte und zischte wie in einer Alchemistenküche. Überall am Boden stiegen buntschillernde Blasen auf und erhoben sich sachte zitternd in den Luftraum. Sie waren nicht selten größer als Luftballons und wie diese keineswegs immer rund, sondern hatten oft die Form von Gurken, Köpfen mit überlangen Nasen und anderen lustigen Gebilden.

Manche Häuserwände schwitzten und sonderten harzige, gelb bis bräunlich schimmernde, bis zu birnengroße Tropfen ab, von denen einige zu faustgroßen, durchsichtig-klaren Brocken kristallisierten und das Licht in alle Spektralfarben brachen; andere Wände überzogen sich, als hätte ein Drache sie angehaucht, blitzschnell mit riesigen, spiegelblanken Metallflächen, die sogleich wieder verschwanden, kaum daß sie deren zufällige Betrachter mit dessen Zerrbild überrascht hatten. Hinter den Fenstern sah man die Räume durch elektrische Gasentladungsvorgänge von mildgrünem Licht erfüllt; an den Dachrinnen entlang rasten Kugelblitze, und über die Vorsprünge zwischen den Stockwerken huschten bläuliche Flammen wie verzauberte Eichhörnchen auf und nieder.

Der Lack auf den Autos hatte sich zusammengezogen und vielfältige Muster gebildet, die an Schuppen, Warzen, Chininpanzer und Federkleider erinnerten. An einigen Stellen hatten sich Verkrustungen zu merkwürdigen Fortsätzen aufgehäuft und fortgebildet, von denen manche wie Flossen aussahen, andere wie Spitzohren, Krallen oder Schnäbel. Alles Windschnittige war den Autos genommen; hätte man sie in Gang gesetzt, so wäre ihnen wahrscheinlich die träge Bewegung vorzeitlicher Monster zueigen gewesen oder das langsame, holpernde Rollen zerfallender Erdklumpen. Überall auf den Straßen bildete sich, ähnlich den Stalagmiten der Tropfsteinhöhlen, mineralische Türmchen, die schon zu zerbröckeln begannen, während sie noch in die Höhe wuchsen. Mittlerweile standen sie in großen Pfützen aus Alkohol, der teils unter den Haustüren hervorsickerte, teils schon aus den Kellerfenstern und Gullys herausquoll. Nun begann auch von den Fenstern des Bürohauses bereits die erste Sirupmasse zögernd sich abzusenken und armdicke, klebrige Fäden zu ziehen, die langsam im Winde schwankten.

Vom Himmel regnete es indessen unzählige blinkende Glittersternchen. Sie rührten von metallischen Verbindungen her, die mit den Gasen aufgewirbelt wurden, sich in Wolken zu kristallinen Gebilden ausformten und wieder herabsanken. Infolge ihrer regelmäßigen Struktur nahmen nicht nur die Wolken selbst gewisse wiederkehrende Muster an, sondern auch der Wind, der durch sie blies, formte sich zu harmonikaler Ordnung. Daher klang es in der ganzen Stadt wie von der Musik einer Himmelsorgel, wobei die Dur-Tonarten vorherrschten.


König Terpentin sah sich dies alles sehr lange und sehr genau an. "Mir scheint," sagte er dann zu seinen Leuten, "daß dies ein äußerst geeigneter Ort für mich ist, um hier mein Königreich zu begründen. Ja, ich bin sogar der Meinung, daß es einen meiner Bedeutung angemesseneren Ort überhaupt nicht geben kann."

Nachdem die Anderen ihm darin zugestimmt und ihn in seinem Beschluß bestärkt hatten, hier zu bleiben, ließ er seine drei Seile vorläufig an Pflöcken festmachen und schickte die Stabilisationsminister in das Rathaus und Arbeitsamt, um das Normalkomitee von seiner Ankunft zu unterrichten. Sie trafen dort jedoch nur eine Art Weihnachtsmann an, das heißt eine Gestalt mit rotem Militärmantel und einem prall gefüllten Sack auf dem Rücken.

Es handelte sich um den Vorsitzenden. Zur Erläuterung sei gesagt, daß die übrigen Stadt- und Normväter rechtzeitig geflüchtet waren, er jedoch mit aller Verbissenheit an seinem Grundsatz festgehalten hatte, daß der Auseinandersetzung mit den Normbrechern auf keinen Fall dürfe ausgewichen werden. Als er aber merkte, daß er sich langsam in Zuckerwerk verwandelte, änderte er seinen Entschluß doch noch und griff nach einem Sack Arbeitslosengeld, um diesen vor dem zu erwartenden Zugriff der Kommenden zu retten; doch nun war es für eine Flucht zu spät. Die Stabilisationsminister, die ihn, da sie keine Antwort erhielten, zuletzt betasteten, stellten fest, daß er sich vollkommen in eine Puppe aus Marzipan, Nougat, Lebkuchen, Bonbons und kandierten Früchten verwandelt hatte; selbst das Geld in seinem Sack, das er den Arbeitslosen vorzuenthalten pflegte, bestand jetzt aus goldblechumhüllten Schokolademünzen.

Darüber hinaus erwies er sich als bedingt regenerationsfähig. Als nämlich die hungrigen Minister ihn in Scheiben schneiden und verspeisen wollten, merkten sie sehr bald, daß sie mit ihrem Vorhaben nicht zuende kommen würden; denn alles, was sie dem Vorsitzenden abschnitten, selbst das verborgenste Detail, wuchs ihm sogleich wieder nach. Das änderte sich nur, wenn sie versuchsweise seine Füße aus der Sirupmasse hoben, welche das Parkett überschwemmte; womit experimentell erwiesen war, daß er seine Aufbaustoffe wie eine Pflanze aus dem Boden bezog. Nur begießen hätte man ihn nicht dürfen, denn das hätte ihn unweigerlich zur Auflösung gebracht.