Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Geschichte von Sirup und König Terpentin.

5. Kapitel: Wie der König einen Wissenschaftsminister gewann und der schraubkreiselgestaltige Gefängniswärter, der zur Rotation, aber nicht zum selbständigen Denken fähig war, sich in seinen eigenen Ketten verfing.

Nachdem am folgenden Morgen der König mit seinen Ministern sich auf den Weg gemacht hatte, dauerte es nicht lange, bis ihn plötzlich der Knüppel des Erziehungssenators zwischen die Beine traf. Die Folge wat eine Verkettung unglücklicher Notwendigkeiten. Zunächst stolperte Terpentin selbst; daraufhin trat ihm der Geheimrat auf die Fersen. Folgerichtig hielten die Stabilisationsminister sofort an, um die bereits gefährlichen Hutschwankungen abzufangen; daraufhin aber mußte auch Terpentin so plötzlich brmesen, daß ihm der Karren mit dem Propagandaminister aus den Händen glitt und bergab zu rollen begann.

Sirup, bleib sofort stehn!" rief ihm der König nach. "Keine Lust", antwortete der Faulpelz und rollte weiter. Terpentin überlegte kurz; dann sagte er: "Wir müssen ihn einholen und zum Stillstand bringen, denn nur so können wir ihn vor dem zu erwartenden Unfall bewahren. Zwar ist es sehr gefährlich für uns selbst, aber, das hat mein Vater auch immer gesagt, man darf seine Freunde nicht im Stich lassen." Und sofort begannen sie loszurennen. Im Ergebnis kam es allerdings dahin, daß der Hut ähnlich einer gewaltigen Stahlfeder in die Höhe schnellte und samt Anhang wie eine Rakete in den Himmel schoß.

Die Landung erfolgte in einem sehr hohen, turmartigen Haus. Während das Dach aber noch sehr leicht nachgegeben hatte, war der Aufprall auf dem Fußboden so gewaltig, daß Terpentin bis zur Gürtellinie daselbst hineingerammt wurde. Nur der untere Teil seines schwarzen Mantels war ihm nicht mit in die Tiefe gefolgt, so daß er nun ausgebreitet um den König herumlag und mit seinem Saum einen abstandgebietenden Kreis beschrieb.

Da erschien unerwartet der Professor, welcher seinerzeit das Hutwachstum einer mathematischen Gesetzmäßigkeit unterworfen hatte. "Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist", sagte er. Ursprünglich hatte ich dieses Gebäude für meine Raketenversuche errichten lassen. Da aber die Höhe deines Hutes diejenige des Hauses noch nicht überschritten hat, anderseits die Untersuchung derart spitzer Objekte nur in geschlossenen Räumen vorgenommen werden darf, bin ich vom Normalkomitee im Interesse von Sicherheit, Ordnung und Normung mit eben dieser Untersuchung beauftragt worden." Er rieb sich freudestrahlend die Hände und fuhr fort: "Jetzt wird gemessen, berechnet, quantifiziert und rubriziert!" Voller Befriedigung richtete er seinen Blick aufwärts.

Mit einemmal jedoch entschwand seinem Gesicht das Lächeln und machte einem Ausdruck tiefer Bestürzung Platz. "Oje," sagte er, "wie ich nunmehr feststelle, ist der Hut doch höher, als es meiner Berechnung entspricht. Ich hatte nämlich nicht einkalkuliert, daß dieser durch schockartige Belastungen sein Wachstum kurzzeitig rapide beschleunigt." Enttäuscht und bekümmert schaute er zu Boden.

Schließlich kramte er ein amtliches Formular aus der Tasche, kam damit dicht an Terpentin heran, indem er auf dessen Mantel trat und sagte: "Wie ich dir im Auftrag des Normalkomitees mitzuteilen habe, sind die nicht unerheblichen Kosten für die Untersuchung zu entrichten von derjenigen Person, an der die Untersuchung vorzunehmen ist, in diesem Falle dem Hutträger. Das gilt selbst dann, wenn die vorzunehmende Untersuchung zum festgesetzten Termin icht vorgenommen werden konnte. In diesem Fall wird dem zu Untersuchenden die Zahlung einer zusätzlichen Verwaltungsgebühr auferlegt. Die Zahlung hat in jedem Falle höchstens zwei Tage nach dem Untersuchungstermin zu erfolgen; anderenfalls verdoppelt sich der zu leistende Betrag mit jedem weiteren Tage."

Nachdem König Terpentin sich dies alles angehört hatte, ergrimmte er gewaltig und sagte: "Bevor ich hierzu, wenn überhaupt, irgendein Wort verliere, verlange ich erstens, daß ich sofort freigeschaufelt werde, und zweitens, daß die ganze vordere Front dieses Gebäudes durchbrochen und abgesprengt wird, damit ich es ungeachtet meiner durch das Schockwachstum bedingten Huterhöhung aufrecht verlassen kann. Und wenn du auch nur noch einmal" - er warf dem Professor einen äußerst strengen Blick zu -, "auf meinen Mantel trittst, dann werde ich zornig wie nie zuvor."

Tatsächlich wies der Professor, der Streitigkeiten gern aus dem Wege ging, sogleich seine Assistenten an, mit den Ausgrabungsarbeiten zu beginnen. Sowie diese abgeschlossen waren, ergab sich jedoch, daß es keinen Sinn gehabt hätte, nun auch noch die Gebäudefront abzusprengen. Im selben Augenblick nämlich wäre der König, da ohne Stabilisation, wie ein wackliges Standbild nach vorne zu aus dem Haus gefallen; und wäre er wirklich ein paar Schritte weit gekommen, so hätte ihn der Wind schließlich doch umgeworfen. So zog er es vor, unter freilich sehr beengten Verhältnissen auf die Rückkehr seiner Stabilisationsminister zu warten.


Wenige Minuten, nachdem Terpentin in die Höhe geschnellt, sein Propagandaminister umgekehrt in die Tiefe gerollt und der Geheimrat sich voller Scham über seine nunmehr entblößten Füße im Buschwerk versteckt hatte, fuhr ein Polizeipanzer vor, der die Stabilitätsminister mitnahm und sie zum Gefängnis brachte.

Der Wärter, der nun auf sie achtzugeben hatte, sah recht merkwürdig aus; unter dem Blickwinkel der Funktionalität betrachtet, könnte man aber genausogut sagen, daß er von höchst zweckmäßiger Beschaffenheit war. Sein Erscheinungsbild erinnerte nämlich an einen auf die Spitze gestellten Kegel oder noch mehr an einen Kreisel. Die Füße waren sehr klein und liefen, so schien es, auf eine gemeinsame Spitze zu; die Beine dagegen, die ebenfalls den Eindruck erweckten, zusammengewachsen zu sein, verbreiterten sich nach oben hin V-förmig bis zu den Hüften, während die Brust- und Schulterpartie diese Linie fortsetzte. Dies bedingte, daß die Arme sehr weit vom Rumpf abstanden und - ebenso wie der ganze Oberkörper - überaus kräftig wirkten.

Das Sonderbarste an dieser Gestalt aber waren drei lange und schwere Ketten, die, eingelagert in einer Art Schraubgewinde, seinen Kegelkörper fast völlig bedeckten. Sie standen in Zusammenhang mit der fast einzigen Tätigkeit und Bewegung, welche der Gefängniswärter ausübte. Wurde nämlich einer der Gefangenen gegen ihn aufsässig oder wandte sich gar zur Flucht, so begann er umgehend zu rotieren wie ein Kreisel, der mit einer Peitsche geschlagen wird.

Sobald nun die drei Ketten bis auf die Befestigungsösen abgewickelt waren und ihre Enden auf dem Boden lagen - sein Leib sah daraufhin aus wie ein Schraubgewindekonus -, faßte er sie zu einer Peitsche zusammen und schlug seinerseits damit auf den Gefangenen ein, worauf dieser herumwirbelte und schließlich - wie vorher die Kettenenden - auf dem Boden lag. Sodann begann der Wärter aufs Neue zu rotieren, diesmal aber in die Gegenrichtung, bis die Ketten wieder aufgewickelt waren und seinen Gewindeleib bedeckten.

Zu bemerken bleibt noch, daß das Kettenmonster auch einen Kopf hatte. Dieser glich einer Eisenkugel, wie sie den Gefangenen an die Füße geschmiedet wurde, um sie an einer schnellen Flucht zu hindern. Selbstverständlich war dieses Gebilde - ein Gesicht bestand nur in Andeutungen, wie bei sehr archaischen oder sehr modernen Skulpturen - ungeeignet, schnelle Denkbewegungen zu ermöglichen; diese hatte der Wärter aber auch nicht nötig, denn denn sein Bewegungsspielraum und damit sein Tätigkeitsbereich war ja sehr beschränkt.

Als die Stabilisationsminister eingeliefert wurden, befand er sich gerade auf einem nahegelegenen Feld, wo er eine Arbeitskolonne beaufsichtigte. Da er die neuen Insassen für sehr aufsässig hielt, machte er sich sofort auf dem Weg zum Gefängnis; genauer gesagt, er begann wie ein Kreisel zu rotieren, denn anders kam er wegen der geringen Spreizfähigkeit seiner Beine kaum von der Stelle. Nachteilig war bei dieser Fortbewegungsart, daß er meist nur über große Umwege, das heißt über zahlreiche Kreise und Schleifen zu seinem Ziel kam und hierbei noch geophysikalischen Einflüssen ausgesetzt war. Dazu zählten die erdmagnetischen Wirbelfelder, welche auf seinen sehr eisenhaltigen Leib einwirkten, ihrerseits aber mit der wechselnden Sonnenfleckenaktivität in Zusammenhang stehen. Das zwang ihn zu steten Kursänderungen.

Anderseits, und dies war sein Vorteil, konnte der Kreiselmensch sicher sein, auf seinem Wege von keinem menschlichen Faktor behindert zu werden, denn zufolge der Fliehkraft nahm er während seiner Rotation die Gestalt eines Kettenkarussels an, dem die Gondeln abgerissen waren. Die Ketten waren dabei also stets abgewickelt und hingen nur noch an ihren Befestigungsösen; folglich wäre ein Jeder, der sich zu sehr in seine Nähe gewagt hätte, sofort niedergeschlagen oder zumindest herumgewirbelt worden.

Wie nun die Minister den Schraubkegelmenschen an der Türschwelle erblickten - er hatte sich inzwischen wieder aufgewickelt -, wurden sie von einer derartigen Neugier erfaßt, daß sie sofort Hand an ihn legten. Er erinnerte sie entfernt nämlich an einen sehr verdickten und auf die Spitze gestellten Terpentin-Hut. Der Wärter dagegen verstand ihr zudringliches Gebaren als eine besonders gefährliche Form von Aufsässigkeit und begann sofort zu rotieren. Noch bevor er jedoch die abgewickelten Ketten in die Hände nehmen konnte, waren ihm die diensteifrigen Stabilisationsminister bereits zuvorgekommen und entfernten sich mit je einem Ende in der Hand, bis sie die Eckpunkte eines exakt gleichseitigen Dreiecks bildeten und die Ketten völlig gestrafft hatten.

Obwohl sie sich damit lediglich bemühten, ihren inzwischen eingeübten Amtspflichten auch an diesem Objekt so gut als möglich nachzukommen und insofern keineswegs irgendwelche Aufsässigkeit an den Tag legen wollten, war das Schraubkegelmonster aufs Äußerste entschlossen, seiner unverlangten Stabilisation entgegenzuwirken. Indessen reichte seine Rotationskraft - technisch formuliert: sein Drehmoment - nicht aus, um außer den Ketten noch drei ehemalige Holzfäller um seinen Leib zu wickeln, und auch seine an sich recht kräftigen Arme halfen ihm jetzt nichts. Er war nämlich in seinen Denkmustern zu beschränkt, um seine Arme in dieser für ihn völlig ungewohnten Situation sinnvoll einzusetzen, etwa indem er mit ihnen die Ketten Stück für Stück an sich herangezogen hätte. Da er im Übrigen keine Anstalten machte, seinen Standort zu wechseln - ohne Rotation war ihm das fast unmöglich -, befestigten die Minister die Ketten schließlich an einem Fenstergatter, einer Türklinke und einem Wasserhahn und gingen zum Flur hinaus.

Nachdem sie begriffen hatten, daß sie niemanden anders als den Gefängniswärter rotations-stabilisiert und somit unschädlich gemacht hatten, befreiten sie alle übrigen Gefangenen, und großer Dank wurde ihnen zuteil. Dann aber verließen sie schleunigst das Gebäude und machten sich auf die Suche nach ihrem König.*)


Es dauerte nicht allzu lange, bis die Stabilisationsminister ihren Dienstherrn wiedergefunden hatten, denn das turmartige Raketengebäude, welches in seiner Höhe dem königlichen Hut ja ziemlich genau entsprach, war von weither bereits zu erkennen. Als sie nun gemeinsam weiterziehen wollten, um den Propagandaminister zu suchen, fragte sie der Professor, ob er mit ihnen ziehen dürfe, denn er wisse kein Objekt, das seine wissenschaftliche Neugier so in Atem halte wie König Terpentin. Dieser willigte ein, wobei er ihm folgende Begründung gab: "Erstens erinnerst du mich wegen deiner geringen Körpergröße sowie deines wuscheligen Äußeren sehr an meinen Teddybär, den ich als Kind immer mit mir geführt habe. Seinen Gewohnheiten soll man aber stets die Treue halten, das hat mein Vater auch immer gesagt. Zweitens ist es einem König angeraten, einen möglichst klugen Mann in seiner Nähe zu haben. Und drittens wird dieser Schlaukopf keine Gelegenheit mehr haben, mir auf den Mantel zu treten, sobald er einmal in meiner Kapuze steckt!"

Darauf befahl er einem der Stabilisationsminister, den Professor in seine Kapuze zu packen und zwei Löcher darein zu machen, damit dieser seine Beine nach vorn zu hindurchstecken könne. "Ich ernenne dich hiermit zu meinem Wissenschaftsminister," sagte Terpentin, "und ich weise dich an, jedes erfreuliche Ergebnis eines Denkauftrages an mein linkes Ohr weiterzugeben, jedes weiterhin bedenkliche aber an mein rechtes."

Dem Professor war die neue Lage eigentlich nicht so angenehm und er versuchte zunächst, sich aus der Kapuze freizustrampeln; da er aber nicht größer und stärker war als ein Säugling und überdies genug damit zu tun hatte, seinen überdimensionalen Wuschelkopf aufrecht zu halten, beschloß er recht bald, sich in das ehrenvolle Amt eines Wissenschaftsminister so gut als möglich einzuleben. Er bat nur noch den König, seine Schmierzettel, Rechenstifte sowie seinen Taschenrechner mitnehmen zu dürfen, und dieser gewährte ihm die Bitte, indem er dies alles in seiner rechten Manteltasche aufhob. Auf eine weitere Bitte wurde auch eine Literflasche modifizierter Milchsäure, des neuen Ministers tägliche Gehirnnahrung, mitgenommen und in der linken Manteltasche verstaut.


Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie eine sonderbare Gestalt in einem Baum hängen sahen, die am ehesten einer zerfetzten Vogelscheuche glich und, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellte, fast ganz aus Sackleinenflicken bestand. Sobald der Wind blies, rieselte feiner Sand heraus, der sich am Fuß des Baumes bereits zu einem kleinen Haufen angesammelt hatte.

König Terpentin sah sie sich lange und aufmerksam an. "Da im Wald keine Vogelscheuchen benötigt werden," sagte er schließlich, "vermute ich, daß dieses merkwürdige Etwas von weit her durch einen heftigen Wind, wenn nicht durch eine Explosion in den Baum befördert worden ist, ja, ich habe sogar das Gefühl, daß es uns etwas zu sagen hat. Laßt uns also einen Talisman daraus formen und diesen für alle Zeit mit uns führen."

Es wurden nun einige Sackleinenfetzen mit Sand gefüllt, vernäht und das Ergebnis - es hatte die Gestalt einer Puppe - dem Wissenschaftsminister mit in die Kapuze gegeben. "Denn", so erklärte Terpentin, "wer tagsüber viel nachgedacht hat, braucht abends so etwas wie einen Sandmann, um schnell einschlafen und angenehm träumen zu können."

Nach einer Weile trug ihnen der Wind einen gemeinen Gestank zu. "Sicherlich rührt dieser von Sirup her," sagte der König, "denn dadurch, daß sein Karren wahrscheinlich noch am Rollen ist, dürfte seiner Käseglocke kein fester Halt mehr gewährt sein." Sie blickten in die Richtung, aus welcher der Wind kam, und gewahrten ein prächtiges Farbenspiel, das hinter einem Hügel langsam aufstieg. Da fragte der König seinen Wissenschaftsminister: "Was können wir tun, um Sirup wiederzufinden?" - "Wie aus meinen Berechnungen, die ich soeben angestellt habe, hervorgeht," antwortete der Professor nach wenigen Augenblicken in Terpentins linkes Ohr, "brauchen wir nichts Anderes zu tun als eine Weile zu warten. Da nämlich dein Raketenflug zufällig in die Richtung erfolgt ist, in die, bedingt durch Gefälle und Rückenwind, auch Sirup rollt, wird es nicht ausbleiben, daß wir ihm sogleich begegnen werden."


*)Anmerkung:
Somit war der Schraubkegelmensch mit seinen eigenen Waffen gefesselt worden. Das wäre nicht so leicht möglich gewesen, wenn er sich auf eine Kette beschränkt hätte, anstatt ihrer drei anzuwenden, um sie in einer Peitsche zu fassen. Wenn wir nun aber in Betracht ziehen, daß auch der Gewinde-Rillen einige mehr waren, als nötig, um die Ketten aufzunehmen, so werden wir daraus zu folgern haben, daß ein übermäßiger Aufwand an Sicherheitsmaßnahmen keineswegs immer einen Mangel an geistiger Wendigkeit (und Rotationsfähigkeit) aufzuwiegen vermag.