Mein Vater Adolf Hinrich Johann Lentze wurde
geboren am 19-6-1900 mittags um 2 Uhr in Hamburg und
getauft am 12-5-1901 in der Gemeinde St.Pauli.
Er schloß die Ehe am 15-3-1947 in Schwerin und
starb am 4-10-1962 um 21.40 Uhr in Hilden.
Sein Vater war der
Eisendreher Karl Albert Adolf Lentze,
geboren am 14-2-1846 in Magdeburg-Neustadt,
gestorben am 21-12-1907 in Hamburg, Sohn des
Böttchers Karl Wilhelm Christoph Lentze (1800-1870), und der
Emilie Luise Adelheid geb. Oppermann (1815-1848),
beide geboren und gestorben in Magdeburg-Neustadt.
Seine Mutter war die
Arbeiterin Johanne Elisabeth, geb. Michalowsky, geschieden von Wilh.Heinr. Geuke,
geboren am 24-3-1869 in Bremen-Aumund, Tochter des
Schmieds Johann Gustav Michalowsky (1834-1904), und der
Meta Elisabeth ("Luise") geb. Geisweller (1832-1875),
beide stammend aus der Gegend um Bremen.
1900 Geburt in Hamburg.
1901 Taufe daselbst.
1907 Tod des Vaters, Karl Albert Adolf Lentze.
1919 Eintritt in die KPD.
1919-1920 Wehrdienst beim Grenzschutz Ost und bei der 3. Matrosenartillerie-Abteilung in Wesermünde.
1921 Abschlußexamen als Lehrer.
1922-1928 Aufenthalt in den USA. Wegen Illegalität abgeschoben nach Deutschland.
1928 Hospitant in einer Schule in Wesermünde-Lehe. Anstellung.
1929 Schulamtsbewerber in Emden.
1930 Entlassung wegen seiner kommunistischen Einstellung.
1933 Illegale Tätigkeit für die KPD als AgitProp. Druck der "Roten Fahne", Ausgaben 6 bis 10.
1934 Festnahme durch die GeStaPo.
1935 Verurteilung durch das Hanseatische OLG zu drei Jahren Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat.
1937-1945 Haft im KZ Sachsenhausen. Dann Teilnahme am sog. Todesmarsch.
1945 Kulturdezernent in Parchim. Anklageschrift gegen den Schriftsteller Friedrich Griese.
1946 Regierungsrat in Schwerin.
1947 Eheschließung mit Eva-Dorothea, geb. Liedtke, in Schwerin.
1948 Geburt des ersten Sohnes (Karl-Friedrich Lentze) daselbst.
1949 Entlassung und Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone nach Westberlin.
1950 Geburt des zweiten Sohnes (Thomas Lentze) daselbst.
1951 Übersiedelung mit der Familie nach Aurich/Ostfriesland, dort ohne Beschäftigung.
1957 Trennung von der Familie. Umzug nach Köln, zuletzt wohnhaft in der Trimbornstraße 27. Beschäftigungen als Hilfsarbeiter.
1962 Tod in einem Krankenhaus in Hilden.
Kindheit und Jugend meines Vaters liegen für mich - bis jetzt - im Dunkel. Dem Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde Hamburg-St.Pauli konnte ich immerhin entnehmen, daß er dort am 12-5-1901 getauft wurde. Danach lassen sich keine Ereignisse mehr mit Hamburg verbinden. Wahrscheinlich ist, daß er, vielleicht nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1907, mit der Mutter in deren Herkunftsbereich umgezogen ist.
Natürlich bewegt mich die Frage, was meinen Vater veranlaßt haben mag, in die USA einzureisen, und dies offenbar in der Absicht, dort Fuß zu fassen. Eine Untersuchung seiner mütterlichen Herkunft gibt dazu einige Hinweise.
Die Mutter, Luise Michalowsky, stammte aus dem Umkreis von Bremen. Sie soll u.a. Schiffsköchin gewesen sein. Über Zeit und Ort ihres Todes habe ich bisher nichts in Erfahrung bringen können. Möglich ist, daß sie, wie schon ein Bruder von ihr, Wilhelm Michalowsky, in die USA ausgewandert und dort gestorben ist.
Laut Datenbank der Mormonen soll besagter Wilhelm Michalowsky am 25-4-1896 in Manhattan eine Carolina Volk geheiratet haben. In der US-Volkszählungsliste von 1910 tauchen beide wieder auf; Wilhelm heißt jetzt allerdings William. Der Liste ist zu entnehmen, daß beide seit 15 Jahren verheiratet sind - was die vorherigen Angaben bestätigt -, und beide 1893 aus Deutschland eingewandert sind; ferner daß von sechs geborenen Kindern vier noch leben: William, Martha, Henry, Elsie. Wilhelm Michalowsky betrieb einen gemieteten Bäckerladen.
Ebenfalls ist der Datenbank der Mormonen zu entnehmen, daß die Eltern der Mutter meines Vaters im Jahre 1857 in England geheiratet haben. (Die dortigen Angaben zur Ehefrau stimmen überein mit den Angaben der Sterbeurkunde aus Bremen.) Es bestand also seitens dieser Familie bereits eine Beziehung zur angelsächsischen Welt.
Weiterhin geht aus den Bremer Musterungslisten der Schiffe von 1815-1917 hervor, daß Luises Vater, Johann Gustav Michalowsky, in den Jahren 1869 und 1871 insgesamt viermal auf Überseeschiffen angeheuert hat, dreimal nach New York, ein andermal nach Westindien (heute: Karibische Inseln).
Es liegt also auf der Hand, daß mein Vater durch seine Mutter zu seiner Amerika-Reise motiviert worden ist. Allerdings scheint es ihm an den nötigen Mitteln für den Kauf eines Ticketts gefehlt zu haben. Jedenfalls sprach er - oder war es meine Mutter? - davon, daß er als blinder Passagier "auf einem Bananendampfer" eingereist sei, und daß er unter falschem Namen als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter dort gearbeitet habe. Wenn das so ist, dann wird es wohl auch eine Ursache für seine spätere Abschiebung gewesen sein.
Von seinem Großvater erzählte mein Vater uns Kindern amüsiert, daß der betrunken in einem Straßengraben geendet habe. Da nun der Großvater väterlicherseits, der Böttchermeister Carl Christoph Lentze, schon 1870 in Magdeburg gestorben war, kann es sich nur um den oben erwähnten Seemann gehandelt haben. Bei dessen Tod war mein Vater vier Jahre alt.
Wie dem sei, ich darf wohl resümieren, daß es sich bei den Vorfahren meines Vaters mütterlicherseits um einfache, teilweise auch etwas abenteuerliche Leute gehandelt haben muß (vgl. dazu auch den Stammbaum auf der Startseite). Aber auch seine Vorfahren väterlicherseits waren einfache Handwerker. Unter ihnen allen, soweit mir bekannt, war mein Vater der erste Intellektuelle.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat mein Vater sich bemüht, im Schuldienst sich eine Lebensgrundlage zu erwerben. Bereits am 18-3-1921 hatte er am Lehrerseminar in Wunstorf/Hannover die erste Prüfung abgelegt.
Von Juli 1928 bis einschließlich März 1929 war er Hospitant an der Lehe-Schule in Wesermünde-Lehe. Den April verbrachte er in Albersdorf, Kreis Neustadt. Vom 1.Mai 1929 bis zum 15.Oktober 1930 war er an der Wallerschule in Emden als Lehramtsbewerber tätig - und damit scheint seine Karriere als Volksschullehrer auch bereits beendet zu sein. Jedenfalls wurde er aus dem Schuldienst der Stadt Emden und des Regierungsbezirks Aurich definitiv entlassen.
Auslöser war seine unverhohlene kommunistische Einstellung. In einem PDF-Dokument, herausgegeben von der Ubbo-Emmius-Gesellschaft in Emden, betitelt: Die Erinnerungen von Friedrich Loop an den Faschismus in Emden (herausgegeben 1985), lesen wir dazu auf Seite 24 Folgendes:
Die Angaben sind etwas ungenau, denn das entscheidende Ereignis hatte am 1. Mai 1930 stattgefunden: Adolf Lentze (bei Loop ohne "t" geschrieben) hatte den Eltern anheimgestellt, ihre Kinder an den Maifeierlichkeiten teilnehmen zu lassen. Dies wurde durch die Schulbehörde beanstandet.
Aufschlußreich ist auch der folgende Bericht:
Es erschienen Herr Regierungs- und Schulrat Konopka und Herr Kreisschulrat Dr. Roch und trugen vor:
Wir haben heute dem Unterricht des Schulamtsbewerbers Lentze beigewohnt und haben feststellen müssen, daß die Leistungen Lentzes derart unbefriedigend sind, daß ihm eine Klasse nicht anvertraut werden kann. Auch das ganze Auftreten Lentzes uns gegenüber war derartig, wie wir es bisher noch nicht angetroffen haben. Wir halten es für erwünscht, daß Lentze von seiner Stellung abberufen wird.
Dabei dürften wohl weniger die "Leistungen" als vielmehr das "ganze Auftreten", d.h. seine kommunistische Selbstdarstellung ausschlaggebend gewesen sein. Jedenfalls scheint er bis nach dem Krieg keine reguläre Erwerbstätigkeit mehr gefunden zu haben. Womit er sich bis dahin - genauer: bis zu seiner Verhaftung wegen kommunistischer Umtriebe - durchgeschlagen hat, bleibt unklar.
1933 war mein Vater als sogenannter "Agitprop" der KPD in Bremen tätig, wo er - angeblich bei offenem Fenster - Ausgaben der "Roten Fahne" druckte. Seine Unvorsichtigkeit wurde ihm zum Verhängnis: Am 10-1-34 wurde er verhaftet.
Das Bundesarchiv in Berlin stellte mir auf Anfrage ein Dokument zur Verfügung, das ich nachfolgend in Abschrift wiedergebe, wobei ich der besseren Lesbarkeit halber handschriftliche Einträge sowie den Abkürzungspunkt hinter "KPD" weglasse:
In der Anlage wird ein der hiesigen Presse übergebener Bericht mit der Bitte um Kenntnisnahme ergebenst übersandt.
Lentze ist bereits seit 1922 in der kommunistischen Bewegung. In diesem Jahre wurde er hier als Leiter von Kursen in Deutsch, Französisch und Esperanto für die KPD in den Unterweserorten bekannt. Im gleichen Jahre hielt er in einer Generalversammlung der KPD in Bremerhaven einen Vortrag über "Die Weltlage und die Aufgaben der Arbeiterklasse". Ende des Jahres betätigte er sich besonders als Agitator für die Errichtung ländlicher Kontrollausschüsse in der Umgebung der Unterweserorte. Weiter setzte er sich auf dem Bezirksparteitag der KPD gegen die Vermehrung der Polizeikräfte in den Unterweserorten ein. In den Jahren 1930 und 1931 betätigte er sich in Emden. In der Zwischenzeit war er weniger in die Erscheinung getreten, da lange Zeit von Seiten der KPD ein Misstrauen gegen ihn herrschte und er vorübergehend auf einer Sitzung der Bezirksleitung aus der KPD ausgeschlossen wurde. In den letzten Monaten war Lentze in der illegalen Führung der KPD in Bremen tätig.
Lentze, Adolf Karl Hinrich Johann Albert, ist am 19. Juni 1900 zu Hamburg geboren.
Aus dem Pressebericht selbst zitiere ich nur, soweit es meinen Vater betrifft:
Dazu eine Zeitungsmeldung ohne Datumsangabe vom Mai oder Juni 1934 im Ausschnitt:
Die Sätze, die meinen Vater betreffen, lauten wie folgt:
Vom 24. Juni 1934 datiert folgende Zeitungsmeldung:
Handelt um hierbei um Alexander Mitscherlich ? Dieser soll aber, so liest man, nur 1933 kurz inhaftiert worden sein.
Wie dem nun sei, aus weiteren Dokumenten gehen folgende Aufenthalte meines Vaters hervor:
30-12-1933: Zuzug nach Bremen, aus Emden kommend.
26-2-1934: Untersuchungshaftanstalt Bremen wegen Vorbereitung zum Hochverrat.
6-6-1934: Gerichtsgefängnis Delmenhorst; am selben Tag rücküberstellt s.o.
29-5-1935: Verurteilt wegen Vorbereitung zum Hochverrat durch Strafsenat des Hamburgischen Oberlandesgerichts.
30-5-1935: Strafanstalt Bremen-Oslebshausen.
Zum Februar dieses Jahres (2012) hat das Landesarchiv Aurich ein Dokument freigegeben, aus dem ich nachfolgend einige Sätze zitiere. Es handelt sich um Urteil und Urteilsbegründung des Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichtes zu Hamburg in Bremen vom 28./28. Mai 1935 wegen Vorbereitung zum Hochverrat durch etwa 12 Personen.
Lentze trat schon 1919 in die KPD ein. Vermöge seiner Intelligenz und seiner rednerischen und organisatorischen Begabung kam er bald in führende Stellungen. Er war in Stade, als er noch das Seminar besuchte, Vorsitzender der Ortsgruppe Stade der KPD. Er bekam Fühlung mit Kommunistenführern wie Thälmann und Koenen in Hamburg und Bremerhaven. Nach seiner Rückkehr aus Amerika trat er der SPD bei, um, wie er selbst zugab, dort für die KPD zu werben. Aus der SPD wurde er wieder ausgeschlossen. Der KPD trat er nicht mehr bei, wohl aber war er Mitglied der R.H., der Internationalen Arbeiterhilfe und der R.G.O. in Emden. In diesen Organisationen bekleidete er verschiedene Funktionen. Weihnachten 1932 wurde er in die Bezirksleitung der RGO nach Bremen berufen, wo er die Leitung der Bezirks-Angestellten-Kommission für den Bezirk Weser-Ems der RGO übernahm. Diese Funktion übte er bis zum März 1933 aus.
Es folgt eine seitenlange, sehr detaillierte Schilderung seiner Vorgehensweise als "Agit.Propleiter" und seiner Zusammenarbeit mit anderen Angeklagten, wobei u.a. die Namen Werno, Beermann, Breig fallen. Seine Hauptaufgabe sah Lentze in der Herstellung und Verbreitung illegaler Schriften, d.h. der Roten Fahne, Ausgaben 6 bis (direkt vor der Verhaftung) 10, jeweils in Auflagen von 800 Exemplaren, sowie Sondernummern; ferner das Flugblatt Information.
Offenbar war es für die Beteiligten nicht leicht, eine Schreibmaschine und einen Vervielfältigungsapparat aufzutreiben. Diese Geräte wurden natürlich beschlagnahmt, wobei die Scheibmaschine im Bericht mit der Typennummer angegeben wird: Torpedo Nr. 59226.
Mit Bohlen besprach Lentze regelmäßig die allgemeinen Richtlinien für den Aufbau der einzelnen Nummern der Zeitung. Im übrigen aber verfaßte Lentze den Inhalt der Zeitung und Flugblätter allein.
Die sämtlichen von Lentze hergestellten und verbreiteten Zeitungen sind hochverräterischen Inhalts. In ihnen wird in verhetzender Form zum gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäßigen Grundlagen des Deutschen Reichs und zur Bildung eines Sowjetstaates nach russischem Muster in Deutschland aufgefordert. Dieser Inhalt war auch den Angeklagten Werno, Breig, Beermann und Ehefrau Werno bekannt.
Nach der Flucht des Werno nahm sich Lentze auch der Organisation der Partei an.
Werno, Lentze und Breig wurden zu je 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, wobei jeweils ein Teil als verbüßt galt durch die Untersuchungshaft. Im Falle Lentzes waren das 6 Monate.
Ich bin geneigt zu sagen, daß die Urteile gerecht gewesen seien. Doch was meinen Vater betrifft, so war sein Leidensweg mit der Verbüßung der Zuchthausstrafe noch nicht beendet, denn die Zeit vom 4-12-1937 bis zur Lager-Auflösung 1945 verbrachte er im KZ Sachsenhausen, Nr. 1485, Block 18, Schutzhaft. Was war der Grund?
Nach Friedrich Loop war die KZ-Haft meines Vaters die Folge einer heroischen Geständnis-Verweigerung:
Loop zufolge wurden die meisten anderen Lehrer zu Nazis und Denunzanten. Zum Glück unterlag er einem Irrtum, als er abschließend schrieb: "Junglehrer Lentze kam im Lager um." Noch 1985 schrieb der Herausgeber in seinem Nachwort zu obiger Schrift (Seite 57): "Der Junglehrer Lenze wurde von den Faschisten umgebracht." Es kann sich auch kaum um eine Verwechslung handeln, da er ihn einen Satz zuvor als "Adolf Lenze" erwähnt.
Über den Lageraufenthalt gibt die Beschreibung von Rudolf Sundermann (siehe weiter unten) Auskunft.
Nach der Auflösung des KZ gelang es Lentze offenbar, sich den Sowjets anzudienen und für wenige Jahre zu äußerem Erfolg zu gelangen. Das Einzige allerdings, was ich hierüber weiß, kommt aus der Feder eines Schriftstellers, der allen Grund hatte, ihm böse zu sein, und der ihm folglich ein sehr ungünstiges Zeugnis ausgestellt hat. Es handelt sich um den NS-Schriftstellers Friedrich Griese (s. den Wikipedia-Artikel). Auf diesen wurde ich aufmerksam gemacht durch den Hinweis eines Lexikonredakteurs, der sich mit dem Leben dieses Schriftstellers befaßt.
Sehen wir uns Grieses extrem ungünstige Beurteilung einmal an! In einer Autobiographie aus dem Jahre 1970, betitelt "Leben in dieser Zeit", erzählt Griese von seinen Begegnungen mit meinem Vater unmittelbar nach Kriegsende. Er sieht einen Polizeiwagen auf sein Haus zukommen; diesem entsteigen zwei Männer, die sich nun daran machen, sein Arbeitszimmer zu plündern.
Der eine ist klein, er forscht besonders eifrig; bald werde ich in ihm den sogenannten Kulturdezernenten des Polizeiinspektors kennen lernen, zu der Zeit weiß ich auch schon, daß er Adolf Lentze heißt.
Dann kehrt er sich zu mir und sagt, daß ich und meine Frau von nun ab unter polizeilicher Aufsicht stehen, Haus und Wohnplatz zu verlassen haben, und dann fordert er die Schlüssel zu sämtlichen Türen und Behältern. Wir gehen hinaus, er schließt hinter uns ab.
Fürwahr keine erfreuliche erste Begegnung! So geht es aber weiter: Als Griese an einem der nächsten Tage sich seinem Haus annähert, das er nun nicht mehr bewohnen darf, sieht er einen brennenden Scheiterhaufen; es ist
mein Archiv, das zu Asche gemacht wird: frühere Manuskripte, die vielen Briefwechsel aller Jahre, Andenken an eine Zeit, die einmal war. [...] Vor dem Eingang steht ein breiter und sehr hoher Wagen, der schmutzig und bis obenhin mit meinen Büchern beladen ist, der erste Erfolg des Kulturdezernenten.
Doch das Schlimmste kommt erst: Adolf Lentze verfaßt eine Anklageschrift, die bewirkt oder jedenfalls maßgeblich daran beteiligt ist, daß Griese für mehre Monate in das berüchtigte Zuchthaus Alt-Strelitz verbracht wird. Nach einigen Monaten kommt er ins Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg - unter ebenfalls fast unerträglichen Haftbedingungen, die für viele seiner Leidensgenossen tödlich enden. Daß er im Frühjahr des folgenden Jahres dann doch noch freikommt, verdankt er vor Allem wohl den Bemühungen einiger Schriftsteller-Kollegen wie Johannes R.Becher, Willi Bredel, Eduard Spranger und Rudolf Pechel, sowie dem ihm wohlgesonnenem russischen Oberst Serebrisky.
Eine Kopie von Lentzes Anklageschrift erhielt ich vom Bundesarchiv in Berlin (ehemals BDC). Aus einem handschriftlichen Vermerk am Ende des Dokuments, datiert vom 9.8.45, geht hervor, daß es sich um eine Abschrift handelt. Ich gebe sie hier wieder, wobei ich der Lesbarkeit halber die Leerzeichen nach den Kommata, die in dem mir verfügbaren Text ausgelassen sind, einfüge.
Adolf Lentze, Schulrat in Parchim/Mecklenburg.
ICH KLAGE AN : FRIEDRICH GRIESE !
"Wer einem schlechten
System dient, kann sich
in gewissen heiklen
Situationen damit her-
ausreden, dass er ja
"eigentlich" und "mensch-
lich" nicht mitspiele...
Dient er ? Dann trägt er
einen Teil der Verant-
wortung."
(Tucholsky)
Als Kulturdezernent des Bürgermeisters der Stadt Parchim halte ich es nicht nur für meine amtliche Pflicht, den Körper der Kulturschaffenden Parchims von faschistischen Elementen zu säubern. Während der ersten 4 Jahre, die ich im Zuchthaus, erst recht aber während der 8 Jahre, die ich im Konzentrationslager Sachsenhausen zubrachte, sah ich so viele deutsche Intellektuelle und Künstler für ihre antifaschistische Aktivität leiden und auch sterben - jenen schweren Tod sterben, den man in Sachsenhausen starb - dass ich es dem Andenken dieser Toten glaube schuldig zu sein, diejenigen aus den Reihen der schaffenden Künstler auszumerzen, die sich mitschuldig machten nicht nur an den Leiden und dem Sterben dieser Aufrechten aus Deutschland, sondern auch am Blut der Märtyrer aller Nationen Europas.
Sie sind nicht nur unwürdig, fernerhin als Künder ihres Volkes zu gelten, sondern sie müssen auch sichtbar bestraft werden als Mitschuldige am Faschismus, als Kriegsverlängerer. Nur dann, wenn das Volk sieht, wie ernst die Intellektuellen und Künstler ihre Bildungsarbeit auffassen, wird es uns achten als das, was wir sein sollen: Bildungsarbeiter des deutschen werktätigen Volkes, nicht Bildungs-Parasiten!
Die offizielle Zeitung der grössten und aktivsten antifaschistischen Partei Deutschlands, die Zeitung der Kommunistischen Partei, sagt in ihrer Nr.8 v.21.Juni 1945: "Denn es ist bekannt, dass der wirklich grosse Gelehrte und Forscher oder der wahre Künstler, dem Kunst und Charakter stets eine untrennbare Einheit darstellt, obwohl von den braunen Botokuden umschmeichelt und umworben, es vermied, seinen Namen mit der Schande des Nazismus zu beflecken."
Nun, Griese ist wahrhaftig genug umwedelt worden! Und er hat sich das nicht nur 12 Jahre gefallen lassen, obwohl er von Kiel aus, wo er zuerst wohnte, leicht nach Dänemark entkommen konnte, sondern war schamlos genug, sich vom Nazigauleiter ein Haus schenken zu lassen, das man einem deutschen Mann gestohlen hatte, weil seine Frau eine Jüdin war. Über die unglaublichen finanziellen Zuwendungen liegen Akten vor; eine Aufstellung kann gemacht werden.
WIEVIEL hat Griese hiervon an notleidende deutsche Volksgenossen gegeben ?
Während Millionen deutscher Männer im wahnsinnigen Hitlerkrieg starben, bekam er Geld dafür, dass er Bücher schrieb und Vorträge hielt zur Kriegsverlängerung. Er münzte den Schweiss der Arbeiter, die Tränen der Frauen und Kinder, das Blut der Sterbenden und Verwundeten um in das Gold seiner Profite. Sorgfältig bewahrte er die Lobreden der Nazibestien auf, anstatt die wenigstens zu verbrennen aus Scham; ein Zeichen, wie teuer sie ihm waren.
Hier sind sie !
Hitler verlieh ihm die zweithöchste deutsche Auszeichnung für Künstler, die Goethemedaille, am 2.Oktober 1940, und Griese antwortet diesem Weltverbrecher, dem Zerstörer jedes wirklichen deutschen und europäischen geistigen Lebens, der die fürchterlichste Knechtschaft über jeden wirklich führenden Geist in unserer Nation und den uns benachbarten legte und die Absicht hatte, den wirklichen Geist der ganzen Menschheit in die Düsternis seiner Barbarei zu zwingen: "Mein Führer! Sie haben mir zu meinem 50.Geburtstag am 2.Oktober die Goethemedaille verliehen. Für diesen deutlichen Beweis Ihrer Anerkennung meiner Arbeit danke ich Ihnen mit der Ehrfurcht, die wir alle Ihnen, gerade in dieser Zeit entgegenbringen. Heil mein Führer!" Gerade in dieser Zeit? Ein Jahr, nachdem der wahnsinnige Krieg von Hitler begonnen war.
Goebbels schreibt dazu an ihn: "Zur Vollendung Ihres 50. Lebensjahres spreche ich Ihnen in dankbarer Würdigung Ihrer grossen dichterischen Leistungen meine herzlichsten Glückwünsche aus. Heil Hitler! Reichsminister Dr. Goebbels."
Der Russlandhetzer, Alfred Rosenberg, der Beauftragte des "Führers" für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, schreibt ihm: "Sehr geehrter Herr Griese! Zu der Verleihung der Goethe-Medaille durch den Führer......spreche ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche aus. Ich verbinde damit den Dank für alle Ihre Werke, die Sie dem deutschen Volk geschenkt haben und die inmitten der heutigen Zeit eine grosse Stärkung für das Bewusstsein des deutschen Volkes geworden sind. Ich hoffe, dass Ihnen noch viele Jahre eines grossen Schaffens verbleiben und wünsche Ihnen für Ihre kommende Arbeit weiter Kraft und Gesundheit. Heil Hitler! Rosenberg, Reichsleiter".
SS-Brigadeführer Hans Johst, Preussischer Staatsrat, Präsident der Reichsschrifttumskammer: "Mein lieber und herzlich verehrter Friedrich Griese ! Es ist mir ein innerstes Bedürfnis, Ihnen auf das Persönlichste........In diesem Sinne drücke ich Ihre Hand und grüsse Sie in alter ehrlicher Verbundenheit mit einem lebendigen Heil Hitler als Ihr Ihnen sehr ergebener Hans Johst."
Griese läßt sich die Hand drücken von einem SS-Brigadeführer. Wenn sich ein SS-Brigadeführer ihm ehrlich verbunden fühlt: muss dann nicht sein Werk etwas enthalten, was den Instinkt einer solchen Bestie gekitzelt hat? Solidarität ist doch nur vorhanden, wenn wirklich etwas Verwandtes besteht. Und so geht das weiter, die ganze Nazibonzenleiter hindurch, von Hitler angefangen bis zur Maidenführerin einschliesslich solcher Leute wie SS-Brigadenführer Heinrich Hansen, dem SS-Führer im SS-Hauptpersonalamt, persönlicher Referent des Reichspressechefs der NSDAP: alle schmeicheln sie ihm, Ja, zum Teufel, warum denn?
Dem SS-Führer Hansen schreibt er: "Ich kann es mir in der jetzigen Zeit nicht erlauben, politisch angeschwärzt zu werden. 11.Februar 1943." Also, er will nicht als irgendwie schwacher Faschist denunziert sein, er wehrt sich dagegen leidenschaftlich: und jetzt wehrt sich derselbe Mann dagegen ebenso leidenschaftlich, wenn ich ihn als Faschist bezeichne! Diesem SS-Führer Hansen denunziert er seinen früheren Seminar-Oberlehrer Sivkovich: "Als er später politisch weich wurde, habe ich mit ihm gebrochen; einmal schon 1917, als ich Schriftführer der vaterländischen Partei war, und dann endgültig 1922." Sivkovich wurde "Weich", d.h. er wurde Demokrat. Griese: "Seit der Zeit habe ich nicht einmal mehr brieflich mit ihm verkehrt."
Dass ihm der Gauleiter Hildebrandt und sämtliche Mecklenburger und Parchimer Faschisten gratulierten, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Es liegt alles in den Akten. Unter all diesen Schreiben kein einziges Schreiben von einem Arbeiter, einem Bauern oder einem Angestellten! Wo ist die Masse der einfachen früheren Berufskollegen der Lehrer? Wo sind die Kinder des werktätigen Volkes? Wer gratuliert Griese? das deutsche werktätige Volk?
Nein !
Aber seine Parasiten, seine Unterdrücker und Mörder!
Sage mir, wer Dich lobt, dann weiss ich, wem du dienst !
Und wenn Griese russischen Offizieren gegenüber gern auf seine reiche Sammlung russischer Schriftsteller verweist, so sage ich dazu nur, dass er sie alle hat: Gogolj, Dostojewski, Tolstoi usw.; aber von Maxim Gorki nur 3 (!) Bücher! Das sagt mehr als 1000 Bände erzählen könnten; denn wer unter allen russischen Schriftstellern Gorki so gut wie gar nicht hat, der sagt damit, wie er zum früheren Russland der Kulaken steht und wie zum heutigen Russland Gorkis und seines grossen Freundes Lenin.
Sie, Herr Major, als Russe, müssen das besonders deutlich empfinden, was für ein Mensch es sein muss, der als Ausländer ausgerechnet die grossen bürgerlichen Künstler der alten Vergangenheit Russlands gelesen hat, aber vom Künder des neuen Russlands nur drei Bücher im Bücherbord stehen hat.Der ganze Charakter des Werkes Grieses spricht nicht dafür, dass er Gorki gelesen hat. Und wenn schon: wenn aus seinen Werken der Feueratem Gorkis wehte und die schrille Stimme des Sturmvogels rief: dann würden Herr Hitler und seine Trabanten ihn genau so behandelt haben, wie sie es mit den andern deutschen Schriftstellern taten, die Gorki und nicht solche weichen Lappen wie Tolstoi oder solche krankhaften Analytiker wie Dostojeski und ähnliche als Vorbild nahmen.
Nein, Griese mag sagen was er will: sein Wirken steht gegen ihn. Man kann einmal vom Feinde gelobt werden und doch unschuldig sein, aber 12 Jahre lang Lob und Geld, dazu gestohlene Häuser und Grundstücke empfangen vom Faschismus ohne Versuch, zu fliehen, ja ohne vor Scham zu erröten: Das macht einen Menschen unmöglich für die Demokratie, weil er dadurch das wurde, als was ich ihn anklage:
Zuhälter des Faschismus, Nutzniesser des Nazismus, Kriegsverlängerer, Kriegsverbrecher Griese !
Im Namen derer, die sich nicht verkauften, sondern aufrecht ihr Banner trugen bis in den Tod, im Namen derer, die durch jene Hände starben, die ihm den Lorbeer und das Geld gereicht, fordere ich seine Verhaftung, seine Anklage, seine Verurteilung.
Auch nach Grieses Haft kommt es noch zu einer Begegnung zwischen den beiden Männern.
In den ersten Wochen meiner wiedergewonnenen Freiheit, im Sommer 1946, suche ich eine Buchhandlung in Schwerin auf, in der ich früher öfter gewesen bin [...]. Die Inhaberin ist sehr verstört, sie dringt mir einige historische Bücher geradezu auf, bezahlen darf ich später. Der Grund dafür ist: daß es hier seit längerer Zeit einen Regierungsrat gibt, der fast alle Tage hereinkommt, die Regale immer wieder durchsieht und dabei mitnimmt, was ihm gefällt. Er sagt jedesmal, es handle sich um verbotene Bücher. In diesem Augenblick zeigt sie nach draußen und flüstert: "Da ist er wieder." Hinter dem Auslagefenster sehe ich einen Mann, der dann die Tür öffnet, schon vor mir steht, und wieder denke ich an das Wort vom Zufall: der Kulturdezernent.
Er sieht mich ja auch und ist überrascht, kommt aber sogleich mit gestreckten Händen auf mich zu und beglückwünscht mich zu meiner Entlassung. Ich antworte nicht, übersehe die Hände und wende mich ab. Weil die Inhaberin Zeuge dieser mißglückten Begegnung ist, wird er verlegen, sieht zum Schein zu den Regalen und geht dann zur Tür. Hinter dem Fenster verschwindet er, nun in entgegengesetzter Richtung. Die Frau sagt: "Da haben Sie sich einen Feind gemacht." Ich antworte, er war es von Anfang an für mich.
Das Museum der Stadt Parchim übersandte mir freundlicherweise eine Schrift von Griese im Umfang von sechs Schreibmaschinenseiten, datiert vom 5. Januar 1947, überschrieben wie folgt: Bemerkungen zu dem von dem Parchimer Kulturdezernenten Herr Lentze gegen mich aufgestellten Material. Sie dürfte in Zusammenhang stehen mit Ereignissen, die ihn einen nochmaligen Zuchthaus-Aufenthalt befürchten lassen, auch wenn die Gefahr für ihn diesmal nicht von Lentze ausgeht (der sich zu der Zeit bereits nach Schwerin begeben haben dürfte). Jedenfalls verläßt Griese im Sommer des folgenden Jahres (1947) die sowjetische Besatzungszone und läßt sich im später sogenannten "Westdeutschland" nieder. Doch auch dort begegnet Griese meinem Vater wieder, wenn auch nicht physisch; nun aber ist dieser der Verfolgte. Der Anlaß ist beschämend - sofern die Darstellung stimmt.
[...] nach einer längeren Zeit im Dorf Velgen lese ich in einer großen Hamburger Zeitung einen Aufsatz. Er ist für den Minister des Landes bestimmt, das uns aufgenommen hat; ihm unterstehen die inneren Verhältnisse, und er wird nun aufgefordert, mehr für die Flüchtlinge zu tun. Der Name des Einsenders ist Adolf Lentze.
So hieß der Kulturdezernent, und es ist schwer denkbar, daß ein anderer nicht nur denselben Namen, sondern auch den dazugehörigen Vornamen trägt. Es bleibt vorläufig dabei, dann bringt die Zeitung einen zweiten Aufsatz: Dreimal klingeln. Der Verfasser Adolf Lentze sagt von sich, daß auch er ein Flüchtling ist und also das Leid vor allem der Frauen kennt. So bittet er sie denn, zu ihm zu kommen, vielleicht kann er ihnen helfen. Der Name der Stadt, in der er wohnt, ist angegeben, Straße, Hausnummer und Etage; wenn dreimal geklingelt wird, weiß er, daß es sich um eine der genannten armen Frauen handelt.
Er, der Männer verhaften ließ, die dann im Lager starben, und deren Frauen zu Flüchtlingen machte, möchte sich hier als deren Beschützer anpreisen? Jetzt will ich der Sache nachgehen.
Griese veröffentlicht einen Bericht in der Hamburger Wochenschrift "Die Zeit" einen Bericht über die Begegnung mit seinem Peiniger, erhält aber außer einem Leserbrief, der anscheinend von einem anderen "Opfer" Lentzes verfaßt ist, keine ihn befriedigende Resonanz.
Meine Archiv-Anfrage bei der "Zeit" ergab, daß dieser Artikel am 27.März 1952 erschienen ist. Zur Sache lese ich dort:
[...] kam am selben Tag ein Auto mit zwei kleinen, verkniffen und brutal aussehenden Männern: Deutsche; ortsfremde Kommunisten mit der roten Armbinde, die neue Polizei, und nun wurde es wirklich gefährlich, die Zeit der Plünderungen begann, den Anfang machte das Fortschaffen der Bücher auf Kälberwagen. Vor einigen Tagen wurde mir berichtet, daß sich der eine der beiden, der in jener Stadt am See so viel Unheil angerichtet hat, jetzt in Aurich in Ostfriesland befindet, vorläufig die letzte Überraschung.
Zum Erscheinungstermin des Artikels war ich zwei Jahre alt; die Trennung meiner Eltern geschah erst fünf Jahre später. Es kommt mir wenig wahrscheinlich vor, daß mein Vater damals nach Frauen Ausschau gehalten hat, zumal meine Mutter, die mit Vorwürfen gegen ihn sonst nicht zurückhaltend war, ihm niemals Untreue zur Last gelegt hat, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.
Wie dem sei, Griese wendet sich an einen Rechtsanwalt und will es mit einer Klage versuchen, doch wird ihm durch einen Staatssekretär bedeutet, daß das zwecklos sei, weil Lentze als Staatsdiener gehandelt habe. Auf eine weitere Anfrage erhält Griese keine Antwort mehr. Das erklärt er sich so:
[...] hier hatte sich also ein wirklich einflußreicher Helfer für den Verbrecher am Menschentum aus jener düsteren Zeit gemeldet.
Soweit der "advocatus diaboli" meines Vaters. Es gibt gewisse Anhaltspunkte dafür, daß Griese nicht immer die unverfälschte Wahrheit schreibt.
Doch sehen wir uns jetzt die Dokumente der Fürsprache an.
Robert Görlinger, zeitweilig Oberbürgermeister von Köln, (vgl. Artikel in der Wikipedia) stellte meinem Vater die folgende Bescheinigung aus:
Rudolf Sundermann, früherer Oberregierungsrat und KZ.-Dezernent der Regierung Aurich (vgl. Archiv-Mitteilung des Instituts für Zeitgeschichte), gibt eine detailliertere Schilderung auch über das Lagerleben. Da das maschinengeschriebene Original nicht gut lesbar ist, veröffentliche ich nachfolgend eine Abschrift (vgl. aber den Scan des Originals unter "Dokumente"):
Betrifft: KZ.-Häftling Adolf LENTZE aus Lager Sachsenhausen / Berlin.
Bescheinigung über erlittene Lagerhaft.
Als langjähriger Häftling politischer Färbung in Sachsenhausen/Berlin kenne[n] ich den politischen Häftling Adolf LENTZE. geb.19.VI.1900 in Hamburg, aus Emden und Bremen aus der Lagerhaft in Sachsenhausen.
LENTZE kam im Herbst (November) 1937 aus der Zuchthaushaft aus Oslebshausen/Bremen in die Baracke 2 nach Sachsenhausen, nachdem er zunächst die übliche[n] 6 Wochen Strafkompagnie durchstanden hatte. Später erhielt ich von der Häftlingslagerleitung den Auftrag[,] durch längere Unterhaltungen mir eine Gewissheit über die Weltanschauung Lentzes zu verschaffen, die der Lagerleitung die Gewissheit gab, es mit einem selbstdenkenden marxistischen Sozialisten in Lentze zu tun zu haben.
LENTZE genoß sehr bald als Vorarbeiter verschiedenster Formationen der Arbeitseinsatzhäftlinge das vollste Vertrauen der Häftlinge, die ihm arbeitstechnisch zugeteilt wurden. Dadurch gewann er auch das Vertrauen der Häftlingslagerleitung. Mit der SS.-Lagerleitung wußte er sich so zu stellen, dass er Einfluss zum Nutzen der Häftlinge gewann. Als Teilnehmer des "TODESMARSCHES" von Sachsenhausen nach Lübeck wurde er im berüchtigten Lager Selow einer der Lagerältesten, der es verstand die unglaublichen Strapazen des Häftlingsmarsches den Massen zu erleichtern. Zuletzt marschierte er mit den Jugendlichen der verschiedenen Nationen, wie Polen, Tschechen, Ukrainer, usw. in die russische Befreiung, die durch das schnelle Vordringen der "ROTEN ARMEE" unausbleiblich wurde, infolge gewisser Unbeweglichkeit der marschierenden Häftlinge [Auslassung ?] auf allen Wegen und Strassen Mecklenburgs.
Soviel ich mich heute noch entsinnen kann war Lentze in folgenden Arbeitskommandos Sachsenhausens unbeanstandet als Vorarbeiter, gut gelitten als standfester Kamerad, unermüdlich tätig für einen Ausgleich zwischen divergierenden Meinungen zwischen Häftlingen und SS.-Lagerleitung, und zwar mit durchweg guten Erfolg. Parteipolitisch fühlte sich der Sozialist Lentze nie gebunden.
1.) Krankenbau: Laboratorium, 2.) Exerzierplatz Sachsenhausen, 3.) Strassenbau II. 4.) Kiesgrube Wandlitz, 5.) Strumpfstopfer, 6.) DAW.-Büro, Beizereischreiber, 7.) Isolierung (Gruppe "ROTE KUHLE"), 8.) Kanal, nochmals Revier und wechselseitige kleinere Arbeitskommandos.
Persönlich habe ich Lentze als hilfsbereiten Kamerad kennengelernt, dem unbedenklich in allen Lagen des Häftlingslebens vertraut werden konnte, der später als "ALTER LAGERHASE" seinen erworbenen Einfluss stets im Interesse der Häftlingsgesamtheit benutzte. Kleinlichen Egoismus konnte dem Kameraden LENTZE mit Recht nie vorgeworfen werden.
Ich bin bereit diese Aussage unter Eid vor dem KSdA. und den ordentlichen Gerichten auf Anfordern jederzeit zu wiederholen.
Rudolf Sundermann
früherer Oberregierungsrat
und KZ.-Dezernent der Regierung Aurich
Soweit die Zeugnisse zweier Männer, die über Jahre hinaus das Lagerleben mit ihm geteilt haben. Es geht daraus hervor, daß, entgegen einem Vorurteil, die Konzentrationslager nicht unbedingt reine Vernichtungslager waren; ferner, daß nicht alle Häftlinge gleich behandelt wurden. Das galt übrigens auch für die Gulags in der Sowjetunion: Solschenyzin etwa, der ein "nützlicher" Mathematiker war, genoß dort, wie andere Wissenschaftler, eine Vorzugsbehandlung, was ihm den Aufenthalt gegenüber vielen seiner Mitgefangenen deutlich erleicherte. Über die Verhältnisse speziell im Konzentrationslager Sachsenhausen gibt es eine sehr ausführliche Schilderung von Harry Naujoks unter dem Titel "Mein Leben im KZ Sachsenhausen. 1936-1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten".
Über einen Zeitraum von fünf Wochen hat mein Vater das Lager auch mit Herbert Marcuse geteilt, wie aus folgendem Dokument hervorgeht:
Zumindest das letzte Dokument läßt allerdings den Gedanken aufgekommen, daß die ehemaligen Lagerhäftlinge untereinander eine Solidarität bezeugten, die nicht unbedingt in persönlichen Sympathien begründet lagen, sondern vielmehr in ihrer Verbundenheit durch die kommunistische Weltanschauung. Denn auch jetzt lebten sie in einer dem Kommunismus gegenüber eher ablehnend eingestellten Welt. Wenn sie sich in Empfehlungsschreiben gegenseitig Charakterfestigkeit bescheinigten, so werden sie also auch nach dem Prinzip gehandelt haben: "Einigkeit macht stark."
Diese Zwecksolidarität, wenn es denn eine solche war, kann aber nicht der alleinige Grund für den sehr freundschaftlich gehaltenen Brief gewesen sein, den mein Vater von Robert Görlinger erhielt. Denn dieser hatte es bereits zu Erfolg gebracht und insoweit nicht nötig, sich einen potentiellen Gönner warmzuhalten. Nachfolgend gebe ich den Brief vollständig wieder.
Aufgrund dieses Schreibens ist es naheliegend, anzunehmen, daß auch das offizielle Empfehlungsschreibens Görlingers einer wirklichen persönlichen Verbundenheit mit meinem Vater entsprang. Gleiches gilt für die Empfehlung durch Rudolf Sundermann.
Nun möchte ich noch den Hinweis erwähnen, der mich dazu führt, dem Bericht von Friedrich Griese ein wenig Skepsis entgegenzubringen. Diesen Hinweis entnehme ich einer Monografie von Stefan Busch mit dem Titel "Und gestern, da hörte uns Deutschland. NS-Autoren in der Bundesrepublik". Friedrich Griese wird als erster dem Nationalsozialismus nahestehender Schriftsteller besprochen. Stefan Busch macht keinen Hehl aus seiner Verachtung, die er für diese Literatur verspürt. Dennoch ist ihm, all seiner Verständnislosigkeit für die "Blut-und-Boden-Thematik" zum Trotz, ein ehrliches Bemühen um Gerechtigkeit nicht abzusprechen.
In diesem Bemühen zitiert er in einer Fußnote (S.45) aus der Anklageschrift von Lentze gegen Griese. Beide Männer seien, so schlußfolgert er, nicht korrekt vorgegangen.
Belastet wurde Griese vom Kulturdezernenten der Stadt Parchim, Adolf Lentze, der acht Jahre im KZ Sachsenhausen verbracht hatte, und im Namen der Opfer den Autor u.a. als "Nutznießer des Nazismus" bestraft wissen wollte. Die berechtigten Vorwürfe werden allerdings überschattet von Haß, der ihn dazu verführte, so zu verfahren, wie es die Nationalsozialisten vorgemacht hatten. Bei einem Offizier der sowjetischen Militärverwaltung klagte er Griese an, eine umfangreiche Sammlung der Werke russischer Schriftsteller, dabei "aber von Maxim Gorki nur 3 (!) Bücher" zu besitzen. Mit dieser Argumentation, die u.U. als entscheidender Faktor zur Verhaftung des Angeklagten geführt hatte, machte er es Griese leicht, seine Person und die Anklage abzutun.
Dieser [d.h. Griese] reduzierte die Anklage fälschlich zunächst auf diesen fragwürdigen Aspekt, zitierte die entsprechende Passage der Schrift, die er im Arbeitszimmer Willi Bredels eingesehen hatte (vgl. "Der Wind weht nicht, wohin er will" S.310-314) weitgehend korrekt, ließ aber am Ende wiederum eine wichtige Stelle aus. Das Verfahren ist für beide Seiten bezeichnend, deshalb und zur Korrektur von Grieses Wiedergabe sei der entsprechende Abschnitt aus Lentzes anklagender Schrift hier angeführt.
Es folgt das Lentze-Zitat, das ich nun wiedergebe, wobei ich die von Griese ausgelassene Passage in geschweifte Klammern und Rotdruck setze.
"Sie, Herr Major, als Russe, müssen das besonders deutlich empfinden, was für ein Mensch es sein muss, der als Ausländer die bürgerlichen Künstler der Vergangenheit Russlands gelesen hat, aber vom Künder des neuen Russlands nur drei Bücher stehen hat. Der ganze Charakter spricht nicht dafür, daß er Gorki gelesen hat. Und wenn schon: wenn aus seinen Werken der Feueratem Gorkis wehte und die schrille Stimme des Sturmvogels rief: {dann würden Herr Hitler und seine Trabanten ihn genauso behandelt haben, wie sie es mit den andern deutschen Schriftstellern taten, die Gorki und nicht solche weichen Lappen wie Tolstoi oder solche krankhaften Analytiker wie Dostojewski und ähnliche als Vorbild nahmen.}"
Anstelle der eingeklammerten Passage läßt Griese meinen Vater mit folgenden Worten enden: "so fordere ich seine Verhaftung, seine Anklage, seine Verurteilung!" Stefan Busch resümiert:
Damit verwendete der Ankläger selbst die Sprache der Unmenschen, andererseits gab der solcherart Angeklagte die abschließende Schlußfolgerung nicht wieder, wohl weil er sich mit "Herr[n] Hitler und seine[n] Trabanten", die ihn ja nicht nur nicht verfolgt, sondern mehrfach ausgezeichnet hatten, nicht mehr selbst in Verbindung bringen wollte.
Dies war Griese offenbar peinlich gewesen, und so hatte er die betreffende Stelle ausgelassen.
Einfügung 5-3-2012:
Während ich gestern diese Seite überarbeitete, fiel mir der Entwurf eines Zusatzes zu meiner "Geschichte von Sirup und Terpentin" (einem modernen satirischen Märchen) ein, betitelt: Der Kulturreferent. Es handelt sich um eine Art Zensurbeamten, seiner äußeren Erscheinung nach mehr ein Stampfhammer (Gerät für den Straßenbau zum Planieren) als ein Mensch. Er brüskiert die Kulturschaffenden, indem er auf ihre Werke zuspringt und sie einstampft.
Dieser "Kulturreferent" - nicht Kulturdezernent, aber es klingt sehr ähnlich - ist also gewissermaßen wie eine Karikatur meines Vaters in der Eigenschaft, wie Griese ihn erlebt hat. Zum Zeitpunkt dieses Entwurfes (etwa 1983) wußte ich aber noch gar nichts vom Schriftsteller Griese; vor Allem wußte ich nicht, was sich zwischen ihm und meinem Vater ereignet hat. Sollte ich während des Schreibens aus der Welt der Verstorbenen inspiriert worden sein? Sollte etwa Griese (er starb 1975) sein Erlebnis in satirischer Weise aufgearbeitet und an mich "weitergegeben" haben? Dies erscheint mir als eine gewagte, aber immerhin mögliche Erklärung.
Wenn es sich um eine Inspiration handelt, so ist aber auch möglich, daß sie von meinem Vater käme, oder von beiden gemeisam. Ich gehe davon aus, daß die Toten sich oftmals näher sind als die Lebenden, und daß sie sich arrangieren. In dieser Überlegung orientiere ich mich an R.Steiners Darlegung über die früheren Verkörperungen von Marx und Engels. Beide waren demnach Raubritter und Feudalherren, wobei der eine den anderen auf dessem eigenen Gut unterwarf und versklavte. Im leibfreien Zustand arrangierten sie sich. Nachdem sie sich aufs Neue verkörpert hatten, unterstützte der frühere Unterwerfer - er hieß nun Friedrich Engels - seinen ehemaligen Kontrahenten.
Einfügung 27-10-2014:
In der Hoffnung, über meiner Vater etwas aus den Berichten ehemaliger Sachsenhausen-Häftlinge zu erfahren, habe ich bisher der Reihe nach folgende Berichte durchgesehen:
Nur in dem Bericht von Wolfgang Szepansky fand ich zwei Erwähnungen eines "Blockältesten Adolf", wobei aber, da der Zuname fehlt, nicht sicher ist, daß es sich um Adolf Lentze handelt:
Unser Blockältester Adolf wurde eines Tages auf mein Tun aufmerksam. Er bat mich, für ihn ein Lager-Liederbuch zu schreiben und zu illustrieren. Zu dieser Zeit wurden solche Bücher von Malern und Zeichnern angefertigt. Ich kannte Volkslieder auswendig, und viele Texte schrieb ich ab aus einem anderen Buch, das er sich geborgt hatte. Dazu entwarf ich Vignetten und Zeichnungen. Bei dieser Gelegenheit zeigte mir Adolf seine eigene dichterische Produktion. Es war Lyrik. Von ihm sicher tief empfunden, aber nach meinem Geschmack sentimental. Ich hielt sie dennoch für wertvoll, weil man ja Ort und Zeit der Entstehung berücksichtigen mußte und brachte sie zu Edgar Bennert. Aber der winkte ab.
(Seite 184f.)
Zu dieser Zeit gelang es manchem Blockältesten, seinen Block ein wenig durch selbst gebastelte Lampenschirme zu verschönern. Auch ich erhielt von meinem Blockältesten Adolf den Auftrag, Lampenschirme zu bemalen. Die Gelegenheit dazu war günstig. Die ganze Belegschaft mußte, aus mir unbekannten Gründen, in einen anderen Block umziehen. Damit hatte ich auch ein Thema für die Bemalung gefunden.
(Seite 194)
Ob mein Vater Gedichte geschrieben hat, weiß ich nicht; meine Mutter hat ja seinen Nachlaß entsorgt. Mein Bruder, der Kunst studiert hat, erzählte mir aus der Erinnerung, daß mein Vater gut zeichnen konnte. - Wenn man bedenkt, daß das Lager Sachsenhausen bisweilen über 20.000 Häftlinge beherbergte, darunter einige tausend politische, und daß sowohl die harte, erschöpfende Arbeit als auch ein begründetes Mißtrauen die Kommunikation erschwerte, so ist es denkbar, daß Häftlinge, die unter normalen Umständen einander begegnet wären, dort nie zueinander gefunden haben.
Einem Dokument zufolge, das ich im Staatarchiv Hannover einsehen konnte, verließ mein Vater eigener Angabe nach am 27-11-1949 die sowjetische Besatzungszone (wahrscheinlich Schwerin). Ihm wurde der Ausweis "C" für Sowjetflüchtlinge ausgestellt. Vom 3-12-1949 bis zum 1-5-1951 war er demnach angemeldet in Berlin-Hermsdorf, Falkentaler Steig 57.
Von der Stadtverwaltung Aurich erhielt ich folgende Meldedaten:
19-4-51: Aurich-Ellernfeld, D.R.K.-Baracke.
09-5-51: Aurich, Sedanstraße, Jugendherberge.
27-6-51: Aurich, Bahnhofstraße 7.
10-9-51: Aurich, Leerer Landstraße 16.
In Aurich, das geht wiederum aus der Akte des Staatsarchivs Hannover hervor, führte mein Vater dann einen jahrelangen Kampf gegen die Hinhaltetaktik einer Entschädigungsbehörde und um seine KZ-Rente. Die desolate wirtschaftliche Lage dürfte der entscheidende Anstoß für die Zerrüttung der Ehe gewesen sein, da meine Mutter ihre materiellen Ansprüche, die sie während ihrer Eheschließung erfüllt gesehen hatte, nicht aufgeben konnte oder wollte. Ihre Einstellung als Ehefrau war weniger durch Solidarität als durch Anspruchsdenken geprägt.
In diese Zeit fällt ein Bericht in Utrechts Nieuwsblad vom Samstag, dem 28.Mai 1955, in welchem mein Vater in Zusammenhang mit der Wahl von Leonhard Schlüter zum Kultusminister erwähnt wird. Hier der letzte Absatz als Bild und in Übersetzung:
Einer der Gründer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland, das zu Niedersachsen gehört, Adolf Lentze, hat in einem von der Sozialdemokratischen Partei veröffentlichten Schreiben heftig gegen das Vorhaben protestiert, Schlüter diesen Ministerposten zu geben, weil "er doch wohl eine der am wenigsten geeigneten Personen ist, der man die Erziehung der deutschen Jugend in Niedersachsen in demokratischem Verständnis anvertrauen könne".
Lentze nannte die Ernennung eine "Kulturschande".
Im Jahre 1957 trennte mein Vater sich von uns und verzog nach (oder in die Nähe von) Köln. Während unserer Ferienbesuche bei ihm lebte er in Klein-Eichen, das ist im Kölner Umfeld. Seine letzte Wohnung hatte er in der Trimbornstraße 27 in Köln. Gestorben und begraben ist er in Hilden.
Einfügung 5-6-2014:
Am 25-7-2011 hatte ich schriftlich beim Kölner Amt für Einwohnerwesen, Athener Ring 5, nachgefragt, von wo mein Vater in die Trimbornstraße zugezogen war. Neun Monate später (!), am 28-4-2012, wurde mir geantwortet durch eine Person mit Namen Holler. Diese bat für weitere Auskünfte um die schriftliche Bestätigung, daß ich bereit sei, die geforderte Gebühr zu zahlen. Obwohl ich dies bejahte, erhielt ich bis jetzt (Juni 2014) keine Antwort. Aber vielleicht ist ja eine Bearbeitungszeit von mehr als zwei Jahren für diese Behörde normal.
Meine Vorfahren der väterlichen Linie, soweit mir bekannt, waren Handwerker - mit Ausnahme des Vaters selbst. Dieser war ein Intellektueller. Als er erwachsen wurde, herrschten Hunger und Arbeitslosigkeit. Hat ihn das zum Kommunisten gemacht? Warum nicht zum Nationalsozialisten?
Mir stellt sich diese Frage deshalb, weil beide Ideologien und ihre Auswirkungen sich erstaunlich ähneln. Der Lebenslauf meines Vaters macht dies besonders deutlich. In seiner Anklageschrift gegen Griese gebraucht er Formulierungen, wie man sie auch in nationalsozialistischen Anklageschriften findet. Stilistisch erkenne ich da keinen Unterschied. Er selbst war Opfer einer Verfolgung, doch hatte er kein Bedenken, seinerseits einen ideologischen Gegner zu verfolgen und ihn damit möglicherweise dem Tode auszuliefern.
Es scheint sogar, daß er bei den sowjetischen Besatzern sich damit profilieren wollte. Griese schreibt:
Damit geht er [der Inspektor] hinaus, und sogleich springt der Kulturdezernent, der heute allein dabei ist, von seinem Stuhl auf und flüstert mir erregt zu: "Wenn die alle weg sind, dann kommt meine Zeit, Sie müssen mir dann helfen, sagen Sie ja." Er ist der erste, der Bücher bei mir gestohlen hat, wie ich weiß, was meint er jetzt? Will er mir eine Falle stellen? Es ist mir aber gleichgültig, ich sage laut: "Nein." Er fällt auf seinen Sitz zurück, der Inspektor ist wieder da [...]. (S.250)
Hier begegnet uns eine merkwürdig naive Erwartungshaltungshaltung meines Vaters gegenüber einem Menschen, von dem er eigentlich keinen Dank mehr zu erwarten hatte; vgl. dazu auch die oben erwähnte Wiederbegegnung beider Männer in der Buchhandlung, wo mein Vater dem Haftentlassenen beide Hände entgegenstreckt. Damit ist zwar die Mutmaßung Grieses, sein Widersacher wolle ihm möglicherweise "eine Falle stellen", nicht widerlegt. Die Äußerungen meiner Mutter, soweit mir erinnerlich, deuten aber doch eher auf einen gewissen Infantilismus, einen notorischen Mangel an Folgenabschätzung hin, als auf eine Disposition zur kühlen Berechnung.
Ihr zufolge sei mein Vater auch nicht frei von einem "lächerlichen" Geltungsbedürfnis gewesen. Inwieweit meine Mutter glaubwürdig ist, steht auf einem anderen Blatt. Unbezweifelbar ist lediglich, daß er sich nach dem Krieg als nicht gerade realitätstüchtig erwiesen hat - wobei zu fragen wäre, welche Rolle dabei seine Gesundheit gespielt hat. Immerhin hatte er 11 Jahre Haft hinter sich, und gemäß einer amtlichen Bestätigung ist er, 62-jährig, an den Folgen der als verfolgungsbedingt anerkannten Schädigung seiner Gesundheit verstorben. (Zum Vergleich: Griese verbrachte nicht einmal ein Jahr in Haft und wurde immerhin 84 Jahre alt.)
Angesichts der sehr ungleich langen Leidenszeiten beider Männer kann man sich daher fragen, ob man meinem Vater eine Art "Opfer-Bonus" zubilligen möchte. Dieser ist ihm ingestalt einer KZ-Rente tatsächlich gewährt worden. Mindert das aber seine Schuld angesichts des Leids, das er einem Dritten, hier: Griese, zufügte?
Selbstverständlich sah sich mein Vater, der ein politischer Häftling war (er wurde bereits 1934 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" in Bremen inhaftiert), und sahen sich alle politischen Häftlinge als Opfer eines Unrechtssystem. Nun aber war Griese ein Schriftsteller, der zwar dieses Unrechtssystem, den National-Sozialismus, vor Allem dessen Rassismus, nicht aktiv unterstützte, sehr wohl aber von ihm profitierte. Er war ein Mitläufer - kein Verweigerer, und erst recht kein Widerstandskämpfer. Es ist jedenfalls verständlich, ja konsequent, daß die Opfer dieses Systems nicht nur dessen Aktivisten, sondern auch dessen Mitläufer anklagten.
In diesem Zusammenhang sei an den Bericht von Friedrich Loop erinnert. Demnach hat mein Vater sich geweigert, seine Mitangeklagten zu verraten, und damit seine KZ-Haft 1937-1945 inkauf genommen.
Es bleibt mir, an die schon getroffene Feststellung zu erinnern, daß mit dem Tod meines Vaters fast seine gesamte Hinterlassenschaft vernichtet wurde, und dies durch die Gleichgültigkeit, vielleicht auch durch den Vorsatz meiner Mutter. Damit ist ihm - richtiger: seinen Nachkommen - etwas Ähnliches widerfahren, was auch Griese durch die Hand meines Vaters widerfahren ist. Nur daß die Vernichtung hier fast vollständig vonstatten gegangen ist. Von dem, was mein Vater geschrieben hat, ist mir - außer der kürzlich erhaltenen Anklageschrift, siehe oben - nur ein Brief an mich zur Weihnacht 1959 erhalten. Dieser Mangel an Dokumenten macht es mir schwer, eine abschließende Einschätzung auszusprechen.
Neuerdings frage ich mich: Was wäre geworden, wenn nicht die Nationalsozialisten, sondern die Kommunisten das Ruder übernommen hätten? Lenin und Stalin waren inbezug auf ihre tatsächlichen und vermeintlichen Gegner viel unberechenbarer als Hitler. Sie haben nicht nur insgesamt mehr Menschen getötet; sie haben vor Allem auch in den eigenen Reihen gründlich "aufgeräumt". Es ist also gut möglich, daß mein Vater auch unter ihnen inhaftiert, vielleicht getötet worden wäre. Tatsächlich mußte er ja sehr bald, nachdem er unter den sowetischen Besatzern eine Art Karriere gemacht hatte, nach Westberlin und dann nach Aurich flüchten. Übrigens hat meine Mutter ihm den Verlust der gehobenen Stellung, die er in Berlin innehatte - "wir hatten ein Haus und ein Dienstmädchen" - ein Leben lang nachgetragen.
Merkwürdig ist, daß er auch nach seiner Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone noch Kommunist blieb. Offenbar war der Kommunismus sein Lebensthema.
Ob mein Vater, wenn er unter heutigen Bedingungen aufgewachsen wäre, sich dem Kommunismus zugewandt hätte? Ich bezweifle es. Die Zeiten haben sich gewandelt. Wie dem sei, ich werde über den Fortgang meiner Untersuchungen berichten.
Mein Vater 1959, zwei Jahre nach der Trennung in seinem möblierten Zimmer, mit Bildern u.a. von mir und meinem Bruder.
In meiner Erinnerung sehe ich mich als Siebenjährigen im Klassenraum stehen und zur Frau Rümpler, der Klassenlehrerin, sagen, daß mein Vater die Wohnung verlassen habe und weggezogen sei. Wir wohnten damals in Aurich, in der Leerer Landstraße 16. Lebhaft in Erinnerung aus der Auricher Zeit sind mir auch heftige Streitszenen zwischen meinen Eltern.
Nach unserem Umzug nach Bonn (Januar 1960) besuchte mein Vater uns gelegentlich. Diese Besuche waren für mich stets ein Anlaß der Freude, denn er brachte mir technisches Spielzeug mit, zum Beispiel den Kosmos-Baukasten "Elektromann". Später kam ein radiotechnischer Lehrgang hinzu, samt Geräten, die ich selbst zusammenbauen konnte. Einmal brachte er einen jungen Freund mit, einen Boxer; ein andermal einen ebenfalls jungen Mann, dessen mitgebrachte Single-Schallplatte - Titel: "Hawaii Tattoo" - ich an diesem Nachmittag unzählige Male abspielte, bis es meiner Mutter fast zuviel wurde.
Zwischen meinen Eltern spielte sich während dieser Besuche Ähnliches ab wie schon früher, nur nicht so heftig. Einmal bemerkte mein Bruder dazu: "Frostige Stimmung!" So verlief auch der Abschied. Vielleicht ist das der Grund, warum mein Vater später in Begleitung der jungen Männer erschien. Sie werden ihm die Besuche bei uns erträglich gemacht haben.
Mindestens zweimal verbrachten wir Brüder bei ihm, nahe Köln, auch die Ferien; aber nur an einen dieser Aufenthalte, wahrscheinlich war es der letzte vor seinem Tod, kann ich mich halbwegs erinnern. Mein Vater lebte in einem unordentlichen Zimmer, war überwiegend mißgelaunt, beeindruckte mich aber sehr durch sein Wissen und seine klaren Grundsätze. Von unseren Gesprächen ist mir eine Schilderung der brutalen Vorgehensweise eines KZ-Aufsehers in Erinnerung. Dieser soll Häftlinge mit einer leder-ummantelten Stahlrute zusammengeschlagen haben.
In einer anderen Erinnerung sehe ich uns morgens eine Dorfstraße entlanggehen. Mein Vater fragte eine ältere Dame nach dem Weg. Die Dame reagierte unfreundlich und gab uns jedenfalls keine verwertbare Auskunft, was wiederum den Fragesteller zu einer bissigen Antwort veranlaßte, etwa: "Wohl noch nicht ganz ausgeschlafen." Dann trafen wir einen Bauarbeiter. Dieser steckte sofort seine Schaufel in den Sandhaufen, überlegte kurz und gab eine überzeugende Auskunft. Mein Vater war sehr zufrieden und legte uns eine ausführliche vergleichende Bewertung vor, die natürlich klar zugunsten des Bauarbeiters ausfiel. Wir Brüder waren ebenfalls zufrieden, und zwar sowohl mit der Auskunft als auch mit der Bewertung unseres Vaters, wenngleich - oder gerade weil - diese in einem durchaus schulmeisterlichen Ton vorgetragen war. Vielleicht ist mir dieses an sich unbedeutende Ereignis in Erinnerung geblieben, weil unsere Mutter auf die Unfreundlichkeit der alten Dame eher resigniert und verunsichert reagiert hätte. Es fehlte ihr an Sicherheit im Auftreten.
Eines Tages begegnete ich meiner Mutter auf dem Heimweg von der Schule. Sie wirkte bedrückt und eröffnete mir, daß mein Vater im Sterben liege. Der Tod trat bald darauf ein, und zwar in der Folge eines Magengeschwürs, an dem mein Vater schon seit Jahren gelitten hatte. Ich war damals 12 Jahre alt (er 62), und ich erfaßte die Bedeutung des Ereignisses noch nicht so recht - wahrscheinlich auch, weil wir Kinder unseren Vater bis dahin ohnehin nicht viel gesehen hatten.
Selbstverständlich kam die Zeit, wo ich begann, meine Mutter nach ihm auszufragen. Viel war es aber nicht, was sie mir mitteilte. Er hätte nie viel über sich erzählt, gab sie stets zur Antwort. Sein Großvater sei als Alkoholiker im Straßengraben gestorben, seine Mutter wohl Schiffsköchin gewesen. Er selbst sei als blinder Passagier auf einem Frachter nach Nordamerika gefahren, habe dort Jahre lang als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter unter falschem Namen gelebt, mußte zurück, kam wegen Vorbereitung zum Hochverrat ins Gefängnis und anschließend ins KZ Sachsenhausen, wo er bis Kriegsende verbleiben mußte.
Nach der Entlassung war er, so sagte meine Mutter, eine Zeitlang Regierungsrat, wurde aber kurz vor seiner Beförderung zum Oberregierungsrat entlassen - angeblich, weil er sich, völlig unnötig, mit seinem Vorgesetzten angelegt hatte. Diesen habe er wegen einer Kleinigkeit (wenn ich mich recht entsinne, sagte sie: wegen einer nicht rechtmäßig erworbenen Weihnachtsgans) denunziert. Danach hätte er zwar noch viele Pläne, aber keinen Erfolg mehr gehabt. Zuletzt war er Hilfsarbeiter in einer Fabrik für elektrische Geräte. Übrigens hätten wir Berlin (wo ich zur Welt kam) nicht freiwillig verlassen, sondern flüchten müssen, weil mein Vater "Spionage nach zwei Seiten" betrieben habe. Er war Kommunist gewesen. Dies sowie die Tatsache, daß er das KZ bereits als kranker Mann verlassen hatte, dürfte - meines Erachtens - mit zu den Gründen gezählt haben, daß ihm beruflich kein Erfolg mehr vergönnt war.
Mein Vater ca. 1962, und ich.
Der Gesamteindruck, den meine Mutter uns über den Vater vermittelte, ist fast rein negativ. Irgendeine vorbildliche Charaktereigenschaft kann er ihr zufolge nicht gehabt haben - außer vielleicht ingestalt seiner vielfältigen theoretischen und praktischen Begabungen, die ihm, als Kind armer Eltern, zu einem Stipendium verholfen hatten. Der hauptsächliche Vorwurf, den sie gegen ihn erhob, war, daß er ein Versager gewesen sei, mit anderen Worten: daß er nicht mit Geld habe umgehen können. Seinetwegen hätten wir Kinder oft nichts richtig zu essen gehabt und frieren müssen. Die Zeit, als wir von der Fürsorge leben mußten, sei ihr in ganz schlimmer Erinnerung geblieben, zumal ihre Klassenkameradinnen alle tüchtige, gut verdiendende Ehemänner bekommen hätten und jetzt in Eigenheimen wohnten.
Leider hat meine Mutter mit dem Tod meines Vaters auch seinen gesamten schriftlichen Nachlaß entsorgen lassen. Selbst in ihrem eigenen Nachlaß finde ich, meinen Vater betreffend, nur wenige Dokumente, und zwar ausschließlich solche, die ihn in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen; darunter ein Rechtsanwaltsschreiben sowie eine Bescheinigung ihrer Eltern, daß gewisse Gebrauchsgegenstände meiner Mutter in deren Besitz und daher unveräußerlich seien - als Vorsichtmaßnahme in Hinblick auf meinen (angeblich) unzuverlässigen Vater.
Mit diesem Dokument möchte ich, der ich selber ein familienrechtlich entsorgter Vater bin, meinem Vater den Respekt erweisen, den ein jeder Vater verdient.