Mein Bruder Karl-Friedrich Wolfgang Lentze wurde geboren am 4. Juni 1948 in Schwerin. Er starb 75-jährig am 10. oder 11. Juni 2023 in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Dorthin war er gezogen bald nach dem Tod unserer Mutter (2001). Davon die längste Zeit und bis zu seinem Tode wohnte er in der Mollwitzstraße 9, unmittelbar angrenzend am Schloßpark. (Nur wenige hundert Meter entfernt, in der Pulsstraße, bin ich geboren; ich weiß nicht, ob ihm das bewußt war.)
Bei dem Bild unter dem Menü links handelt es sich um sein Führerscheinfoto, aufgenommen ungefähr wohl um 1970. - K.-F. (so will ich ihn nachfolgend nennen) war mit 172 cm Körpergröße erkennbar kleiner als ich, schmalhüftig, von guter männlicher Statur und über lange Zeit jugendlichem Aussehen.
Seinen Beruf gab er an mit Maler, später mit Konzeptkünstler. Tatsächlich hatte er, nach vorzeitigem Abgang vom Gymnasium, die Glasfachschule in Rheinbach besucht, dann die Werkkunstschule in Köln, zuletzt ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg erfolgreich abgeschlossen.
Anfangs malte K.-F. abstrakte Bilder, vorwiegend in Blautönen (s. links: "Die See", 1968). Sodann schuf er "Objekte", so etwa knallfarbig bemalte Stücke von Baumstämmen. Ab etwa der Jahrtausendwende beschränkte oder konzentrierte er sich auf sogenannte "Konzeptkunst", die darin bestand, Behörden zu provozieren, indem er ihnen offensichtlich unsinnige Anträge zusandte, die von ihnen oft notgedrungen beantwortet werden mußten. Sowohl die Anträge als auch die Antworten verschickte er in zahlreichen Kopien an Zeitungen im In- und Ausland. Wurde das veröffentlicht, dann kopierte er die Artikel wiederum zahlreich, um sie zu archivieren und die Kopier-Überschüsse an seinen Bekanntenkreis weiterzureichen.
Den Leser bitte ich zu bedenken, daß ich K.-F. seit kurz nach dem Tode unserer Mutter, also über zwanzig Jahre lang, nicht mehr gesehen und gesprochen habe; bis jetzt wußte ich nicht einmal, ob er noch lebte, und wo. Mein dringlichstes Anliegen nach Besichtigung seiner Wohnung war daher, möglichst viele Nachbarn, die ihn kannten, ausfindig zu machen, um sie über ihn zu befragen.
Am meisten interessierte mich - und interessiert mich immer noch - die mögliche Todesursache. Nach übereinstimmenden Aussagen hatte K.-F. seit vielen Monaten an Problemen im Urogenitalbereich, auf jeden Fall an Beschwerden beim Wasserlassen geklagt. Ob es sich dabei um Begleiterscheinungen einer gewöhnlichen Prostata-Hypertrophie gehandelt hat oder um Prostatakrebs oder um noch etwas Anderes, wußte mir niemand zu sagen. Vielleicht wußte K.-F. es selber nicht, denn er habe sich, allen noch so dringenden Appellen zum Trotz, strikt geweigert, einen Urologen aufzusuchen. Übrigens soll er auch in allen anderen Fällen, etwa bei heftigen Zahnschmerzen oder bei einer Kopfverletzung nach einem Sturz aus der Hängematte, jeglichen Arztbesuch abgelehnt haben.
Natürlich gibt diese Weigerung Rätsel auf. War es Ängstlichkeit? War es Stolz, der ihm nicht erlaubte, Hilfe anzunehmen? Oder hatte er angesichts ausbleibender Erfolge den Lebensmut verloren und mit seinem Leben abgeschlossen? Vielleicht kamen alle diese möglichen Gründe zusammen, aber sicher bin ich mir, daß Ängstlichkeit eines der hervorstechendes Merkmale seiner Persönlichkeit war. Diese Ängstlichkeit trat oft in grotesker Weise zutage, wenn seine Hemmungslosigkeit, aus schlechter Laune heraus andere Menschen vor den Kopf zu stoßen und zu beleidigen, entsprechende Folgen erwarten ließ. Er ließ sich schnell einschüchtern, war dann verängstigt, zugleich aber auch beleidigt und pflegte Rachegelüste. Darauf geht erklärtermaßen auch sein Kontaktabbruch zu mir zurück. Wo ihm Menschen wichtig waren, knüpfte er verlorene Beziehungen aber auch wieder an.
Aus den Schilderungen der Nachbarn ergibt sich mir ein Bild, aus dem sich zwei Züge herausheben. Zum Einen eine gelegenheitsweise ausgiebige Mitteilsamkeit, und zwar bis an die Grenze zur Überforderung des Gesprächspartners. "Er muß den Leuten immer gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählen" - mit diesen Worten hatte es mir einmal unsere Mutter erläutert. Das möchte ich aber keineswegs zu seinen Ungunsten erwähnen, denn in der Regel wirkte er damit sehr anregend, witzig und unterhaltsam. Zudem hatte er - im Unterschied zu mir - eine kräftige, weit tragende und wohltönende Stimme.
Der andere hervorstechende Zug bestand, den Schilderungen zufolge, in einem rücksichtslosen Egoismus. So soll er eine schwer behinderte Nachbarin, die einmal bei ihm klingelte mit der Bitte, ihr bei seinem nächsten Einkauf eine Packung Milch mitzubringen, in aller Schroffheit abgewiesen haben mit den Worten: "Damit fangen wir gar nicht erst an."
Indem ich dies vernahm, kam mir eine bestätigende Erinnerung aus der Zeit unserer Kindheit in den Sinn: Wir befanden uns am Strand von Glücksburg, wo wir regelmäßig unsere Sommerferien verbrachten. Abseits der Mutter standen wir kniehoch im Wasser der Flensburger Förde. In der Nähe einige größere Jungen mit grobem Benehmen, von denen der eine mir bedrohlich erschien. Ich wandte mich an meinen Bruder, der damals größer (weil älter) war als ich, und sagte ungefähr: Da ist jemand, der kommt immer näher auf mich zu. - Er aber wies mein Hilfeersuchen zurück, wobei mir folgende Worte bis heute in den Ohren klingen: "Ich helfe dir jedenfalls nicht." Gleichzeitig habe ich das Bild vor mir, wie er abgewandt von mir im Wasser steht, mit einem Gesichtsausdruck, welcher der Kälte und Schroffheit seines Tonfalls entsprach. Und dieses Verhalten war grundlos und für mich rätselhaft, weil ihm kein Streit vorausgegangen war.
Er sei stets bereit gewesen, Kritik zu üben, nicht aber, Kritik entgegenzunehmen; Zurückweisungen auszusprechen, nicht aber, sie zu ertragen, auch dann nicht, wenn sie Notwendigkeiten geschuldet waren. Einer seiner Nachbarn, ein Kubaner, den ich während dieser Tage als außerordentlich freundlich und rücksichtsvoll erlebt habe, erzählte mir, wie K.-F. einmal mit einem wohl dringenden Gesprächsbedarf zu ihm gekommen sei, er selbst aber bereits auf dem Weg zur Arbeit war, dies meinem Bruder auch höflich erklärte, ihn damit aber unwillentlich in seinem Narzißmus so sehr känkte, daß er von ihm monatelang nicht mehr angesprochen wurde.
Dem selben Nachbar zufolge hat K.-F. einen weiteren für sein Umfeld bisweilen unterhaltsamen, bisweilen aber auch lästigen Charakterzug selbst beschrieben, indem er unsere Mutter zitierte, die ihn als ein Klatschweib (oder Tratschweib) bezeichnet habe. Mir gegenüber - es ist Jahrzehnte her - hat die Mutter aus bestimmtem Anlaß die Worte unseres Vaters wiedergegeben, sinngemäß etwa wie folgt: "Vertraut dem K.-F. bloß keine Geheimnisse an, der ist in der Lage, uns durch seine Offenheit alle ins KZ zu bringen!"
K.-F.s Wohnung legte Zeugnis ab von einer bescheidenen Lebensweise: Zum Sitzen gab es einen Stuhl und ein kurzes Sofa. Statt einem Bett gab es eine Hängematte. Es fehlten Fernseher, Rechner, Festnetztelefon, Kühlschrank, Geschirrspüler, Kleiderschrank. Der Einbauherd schien nie benutzt worden zu sein; vorhanden war jedoch ein Mikrowellenherd und ein Kaffeekocher; die Küchenschränke waren weitgehend leer. Im Bad stand eine schmale, von oben befüllbare Waschmaschine; im Flur ein gut ausgestattetes Fahrrad. Auf der Tischplatte (die auf Böcken gelagert war) stand ein altmodisches Kofferradio. Das Kernstück der 1-Zimmerwohnung war ein großes Regal mit sehr vielen penibel beschrifteten Dokumenten-Ordnern.
Man hatte meinen Bruder auf dem Sofa liegend gefunden, zugedeckt und vermutlich zusammengekrümmt, weil das kurze Möbelstück kein Ausstrecken erlaubte. Zwei zurückgelassene Tücher waren, anscheind durch Blut oder eine andere Körperflüssigkeit, mit dem Sofa leicht verklebt. Auf dem Wäschetrockner lagen viele kleinere (Putz-)Tücher sowie eine Art Plastik-Unterhose.
Davon abgesehen machte die Wohnung einen sehr sauberen und geordneten Eindruck. Es war nicht schwer, die jetzt benötigten Dokumente zu finden, denn sie lagen gut sichtbar auf dem Tisch. Der Tod kann demnach nicht überraschend eingetreten sein.
Den Mitteilungen zufolge verließ K.-F. die Wohnung nur zum Gassigehen im Schloßpark mit dem Hund, solange der noch lebte, und ansonsten zum Essenholen. An seinem weiteren Umfeld war er nicht interessiert. Beziehungen zur Berliner Kunstszene soll er nicht gehabt haben.
Von Süchten blieb mein Bruder verschont. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol, nahm aller Wahrscheinlichkeit auch keine Drogen oder Medikamente zu sich. In einer Küchenschublade fand ich lediglich etwas Paracetamol sowie Vitamintabletten. Anderseits ernährte K.-F. sich auch nicht ausgesprochen gesundheitsbewußt. Was ich noch vorfand, waren einige Fertiggerichte mit Fleisch sowie kaffeehaltiges Getränkepulver.
Nahe am Hauseingang traf ich eine Frau beim Blumengießen, die K.F. von dessen langen Ansprachen kannte. Ein wenig zu meinem Erstaunen stellte sie fest, daß ich meinem Bruder frappierend ähnlich sei, und zwar nicht nur in der Erscheinung, sondern auch in der Art zu sprechen, zu gestikulieren usw. Dergleichen bekam ich auch von einigen anderen Bewohnern zu hören. Ich nehme es mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, obwohl es ja eigentlich nicht überraschen sollte, daß leibliche Brüder einander ähneln.
Diese Frau äußerte ihren Eindruck oder ihre Vermutung, daß K.-F. bisexuell gewesen sei. Ich selbst vermute das nicht, auch wenn mein Bruder in Einzelheiten dazu Anlaß gab. So ist er während der Schulzeit einer typischen Mädchenbeschäftigung nachgegangen: dem Häkeln und Stricken (während ich mich, sozusagen jungengemäß, ganz dem Elektro- und Radiobasteln hingab). Wahrscheinlich wird die schon erwähnte Neigung zum Tratschen, die lustvolle Preisgabe intimster Dinge aus und im nächsten Umkreis, den Eindruck einer gewissen Weiblichkeit (oder besser: Unmännlichkeit) begünstigt haben. Vielleicht kam hinzu, daß er sich mit blondierten Haaren präsentierte (s. Foto rechts).
Besagter kubanischer Nachbar erzählte mir noch eine Begebenheit, die ihn sehr belustigt habe: K.-F. sei zu ihm gekommen mit dem Foto einer nackten Frau, anscheinend ausgerissen aus einem Pornoheft. Er habe das Papier mehrfach gefaltet, sodaß u.A. der Kopf nicht mehr zu sehen gewesen sei, somit das für ihn Wichtigste herausgearbeitet, und dann mit einem gewissen Stolz ob seiner Schlauheit erklärt, diese Vorlage nehme er zum Wixen. - Der hilfsbereite Nachbar fand diese Lösung suboptimal und stellte ihm eine reale Frau in Aussicht, die er seinem großen Bekanntenkreis ohne Schwierigkeit würde entnehmen können. - K.-F. soll dies Angebot vehement abgelehnt haben, und zwar mit einem Gestus der Entrüstung!
Meiner Einschätzung nach war K.-F. eindeutig heterosexuell (so wie ich), aber unbeholfen in der Technik der Annäherung (ebenfalls wie ich), was meines Erachtens auch aus der obigen Mitteilung folgt. Im Zusammenhang unseres brüderlichen Verhältnisses muß ich erwähnen, daß ich anfangs meiner 20er Jahre mit dem Schwulen-Milieu in Berlin sympathisierte und dies mit Überzeugung hinausposaunte. Zu dieser Zeit experimentierte ich auch mit Veränderungen an meiner Erscheinung, indem ich meine damals noch rötlichen (heute dunkelblonden) Haare schwarz färbte (Kopf und Schnurbart, einmal sogar die Wimpern), zeitweilig mir auch das Haar krausen ließ, was K.-F. vor unserer Mutter - die aber etwas toleranter war als er - so kommentierte: "Und sowas in unserer Familie!"
Bald darauf, aus Hamburg zurückkehrend, präsentierte K.-F. uns voller Stolz ein Schwulen-Magazin - es könnten auch mehre gewesen sein - mit Nacktfotos von sich selbst. Er hatte keine schlechte Figur, zumal er damals seine Muskeln trainierte. Aber natürlich mußte ich an die erwähnte Szene denken, als er sich meinetwegen entrüstete mit den Worten: "Und sowas in unserer Familie!" Doch wirklich pikant an seinem Werbeauftritt war die Nennung seines Namens in riesigen Lettern unter den Fotos: Karl-Friedrich Lentze. Er machte uns damit den Zweck seines Auftritts klar: Er wollte prominent werden, ins öffentliche Gespräch kommen, egal mit welchen Mitteln. Die Leute, mit denen er auf diesem Wege in Verbindung zu kommen hoffte und wohl auch kam, waren teilweise wirklich prominent, und bekanntermaßen schwul. Wegen ihrer Prominenz bewunderte er sie; wegen ihrer Schwulheit verachtete er sie: "Man muß die verscharren." Jedoch scheint es bei einer kurzen Episode geblieben zu sein.
Zu Frauen scheint K.-F. keine tieferen Beziehungen gehabt zu haben; jedenfalls war keine von Dauer. Unsere Mutter sagte mir einmal, er habe unrealistisch hohe Ansprüche; außerdem erwarte er, daß die Frau zu ihm käme, nicht umgekehrt. Das Ansehen pornografischer Filme hielt er jedoch für selbstverständlich, wie er mir einmal ganz ungeniert am Fernseher unserer Mutter demonstrierte. - Einmal hat er sich verheiratet mit einer Italienerin, die er über eine Kontaktanzeige kennengelernt hatte; diese verlor aber sehr bald ihr Interesse und blieb schließlich bei ihren Eltern in Padua. Es war dann viel von Scheidung die Rede, doch entzieht sich meiner Kenntnis, ob es tatsächlich zu einer formellen Scheidung gekommen ist.
Zu zwei Wesen aber hatte mein Bruder tatsächlich eine tiefe und lebenslange Beziehung, selbst über deren Tod hinaus: das war unsere Mutter, und das war der von ihr übernommene Hund, von ihm "Karlchen" genannt (siehe das Foto oben). Meine Vermutung ist, daß K.-F. sehr wenig liebefähig, aber umso mehr - in elementarer oder kindlicher Weise - liebebedürftig war.
Die Beziehung zur Mutter hatte Ähnlichkeit mit einer konfliktreichen, aber unauflöslichen Ehe. Morgens erwachte ich, der Langschläfer, oft an einem zunehmend lautem Wortgefecht zwischen den beiden, welches damit endete, daß die Mutter sich in ihren Bereich, einem geräumigen Dachbodenzimmer, zurückzog und die Tür knallend hinter sich zuschlug. Dann ging K.-F., sichtlich entspannt und zufrieden, ins Wohnzimmer, trank Kaffee und las Zeitung. Ein anderer würde sich jetzt die "Zigarette danach" anzünden, dachte ich mir.
Bei der Verstimmung bzw. Entspannung blieb es natürlich nicht. Die Mutter kam alsbald wieder herunter, und die Unterhaltung wurde in friedlicherer, aber insgesamt doch wechselhafter Weise fortgeführt. Thematisch ging es meist um seine künstlerischen Erfolge oder Mißerfolge und um die Menschen, mit denen er es diesbezüglich zu tun hatte. Aus meiner Sicht hatte das, soweit es den Bruder betrifft, durchgängig den Charakter von Tratsch: Es wäre unklug gewesen, die erwähnten Personen zuhören zu lassen.
Ein Detail aus unserer Kindheit ist in mir haften geblieben: Geburtstag für K.-F. Die Mutter hatte in der Wohnküche den Gabentisch aufgebaut, zu dem wir nach dem Erwachen hereingeholt wurden. In meiner Erinnerung war dies für uns, zumindest für mich, immer ein äußerst spannender und beglückender Moment. K.-F. jedoch war entweder unzufrieden, oder, was wahrscheinlicher ist, einfach zu unbedachten, taktlosen Äußerungen aufgelegt, sodaß es unserer Mutter, ihrerseits durch die überbordenden Alltagssorgen dauergestreßt, herausfuhr: "Ich versuche, alles schön herzurichten und dir ein bißchen Freude zu bereiten, und du (...) - hach, daß du dich nicht vor dir selber schämst!" Dies empfand und empfinde ich als einen peinlichen Moment. Aber wie ich meinen Bruder kenne, hat er sich durch den so heftigen mütterlichen Vorwurf beeindrucken lassen, und das Geburtstagsfest nahm dann wohl seinen üblichen Verlauf.
Auf der Deckel-Innenseite des Ordners, in welchem K.-F. die Dokumente zum Leben und zum Tod unserer Mutter zusammengestellt hat, ist zu lesen: "Die einzige Heimat, die ich hatte, war meine Mutter." Als sie starb - wenige Wochen zuvor war ich, noch wohnungslos, mit Frau und Kind aus Afrika kommend, in ihr Haus gezogen, es war der Februar 2001 -, schluchzte er ungeniert auf, zeigte also ein tiefes Gefühl, und scheute sich (anders als ich) nicht, die Sterbende zu entkleiden.
In seinem Eifer machte er, aus meiner Sicht, allerdings einen Fehler: Vor dem Tod der Mutter protestierte er gegen den Arzt, der sie wohl in Ruhe hätte sterben lassen, und veranlaßte ihre Überbringung in ein Krankenhaus. Dort blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als durch intensive Maßnahmen den Sterbevorgang zu verlängern, was mit Qualen verbunden gewesen sein muß. Denn als ich sie kurz vor ihrem Tod noch besuchte, gab sie mir zu verstehen, daß ihr ganz furchtbar übel sei. Ich fühlte mich überfordert und antwortete irgendetwas, womit ich nur meine Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen konnte. - Vielleicht hat dies meinen Bruder, abgesehen von den schon genannten möglichen Gründen, motiviert, in seiner Wohnung und nicht unter Ärzten zu sterben.
Im Hund, den er übernahm, schien für ihn die Mutter fortzuleben. Naturgemäß war diese Beziehung konfliktfrei, denn ein Hund verzeiht seinem Herrn alle Grobheiten und fordert ihn niemals auf, das Haus zu verlassen.
Ich sehe daher Grund zur Annahme, daß dessen Tod am 04.11.2014 (Presse-Mitteilung 15.11.2014, Geburtstag der Mutter: 14.11.1915 - welch Zufall!) meinen Bruder ähnlich geschmerzt haben wird wie der Tod der Mutter, vielleicht sogar noch mehr, denn nun hatte er niemanden mehr, der ihm in bedingungsloser Liebe zugetan war.
Nun, ein überzeugter Christ wie ich sieht das anders, aber damit bin ich in meiner Familie die Ausnahme. Jedenfalls soll K.-F. danach, einer Nachbarin zufolge, sichtlich abgemagert sein. Er scheint danach auch keine oder nur noch wenige konzeptkünstlerischen Aktionen ausgeführt zu haben.
Bis dahin jedenfalls hat ihn die Liebe zum Terrier, "Karlchen" genannt, zu zahlreichen Ideen inspiriert, die er selber in einer langen Liste dokumentiert hat. Ich gebe sie hier als Abschrift wieder, um einen Eindruck von seiner Tätigkeit zu vermitteln:
Indem ich nun versuche, meinen Bruder mit wenigen Worten zu charakterisieren, kommen mir die Worte "Merkur" und "merkuriell" - beide astrologisch verstanden - in den Sinn. K.-F. wurde geboren und starb im (Luft-)Zeichen der Zwillinge, welches beherrscht ist vom Merkur. Damit in guter Übereinstimmung war er von eindeutig sanguinischem Temperament, bei guter Verfassung äußerst mitteilsam, doch intellektuell oberflächlich; und vor Allem war er in hohem Maße das, was man unter "originell" versteht.
Die astrologische Tradition sieht eine Erscheinungsform des Merkur im Hofnarren. Ungefähr so hat sich wahrscheinlich auch K.-F. verstanden. Er sah sich berufen, staatliche Einrichtungen zu "irritieren" (wie er es einer Journalistin gegenüber ausdrückte), anders gesagt: bürokratische Strukturen durch absurde Eingaben aus den Takt zu bringen, Beamte vorübergehend ratlos zu machen, Journalisten davon zu unterrichten und letztendlich Zeitungsleser zu erheitern und zum Staunen anzuregen.
Zweifellos kann das "Aufbrechen verkrusteter Strukturen" - hier wohl eher: das zeitweilige Unterbrechen routinemäßiger Arbeitsabläufe - erfrischend wirken, in gewissem Grade vielleicht sogar heilsam. Im medizinischen Bereich gibt es hierfür viele Parallelen.
Ich sehe aber, was K.-F. betrifft, auch eine bedenkliche Seite. Während einige Einfälle meines Bruders (die oben aufgelisteten "Hunde-Ideen" bilden nur einen Teil davon) aufgrund ihrer Originalität nachweislich einen weitreichenden Unterhaltungswert bewiesen haben - vergl. dazu zwei Zeitungsberichte, auf die ich hier nur verlinken kann: hier und hier; allein 260 Aktionen werden aufgelistet durch dieses Presse-Archiv -, so dürfte ein größerer Teil dieser Eingaben bei den jeweiligen Adressaten umgehend in die Papierkörbe gewandert sein. Das gilt zumindest für das Deutsche Patentamt: Allein schon zur Eintragung eines Gebrauchsmusters sind strenge Bedingungen zu erfüllen; außerdem kostet es Geld, und nach Prüfung der Voraussetzungen erhält man eine Urkunde. (Ich selbst habe diesen Weg erfolgreich beschritten nach Erfindung einer neuartigen Klarinette.)
Welchen Sinn also hat die sehr umfangreiche, d.h. auf Vollständigkeit bedachte Dokumentation und Archivierung dieser Aktionen, welche einen Großteil seiner täglichen Arbeit ausgemacht haben muß? Welches ist der (konzept-)künstlerische, welches der gesellschaftliche Wert? Hat die Arbeit der Dokumentation wenigstens zur Evolution der eigenen Persönlichkeit beigetragen? Das sind Fragen, die ich mir im Bemühen, meinem Bruder gerecht zu werden, selber stelle.
Mir kommen dabei Bilder einer Afrikareise in den Sinn. Ich war unterwegs auf einem Lkw, den ich durch die Sahara führte. An verschiedenen Stationen traf ich mit anderen Fahrern zusammen, welche dieselbe Strecke fuhren. Irgendwann fiel uns auf, daß ein gewisser Reise-Unternehmer und -Buchautor sich an allen diesen Orten mit der Inschrift seines Namens verewigt hatte. Das löste Unmut aus: Für wie bedeutend hält der sich eigentlich? Es war der genau gegenteilige Eindruck wie der angesichts des Grabmals eines berühmten Scheichs, der sich durch seine Heiligkeit und seine Wohltaten ins kollektive Gedächtnis geprägt hat und damit selbst Atheisten in eine andächtige Haltung versetzen konnte.
Sicher übertreibe ich, wenn ich angesichts der zahllosen Fax-Kopien von Eingangsbestätigungen, auf die keine Antwort erfolgte, den Begriff der "unendlichen Vervielfältigung von Leerformen" verwende. Die Vorgehensweise hat jedenfalls Ähnlichkeit mit der Einrichtung eines Spiegelkabinetts, in welchem der Erbauer sich vielfältig gespiegelt sieht und in der Folge seine eigene Bedeutung überschätzt.
Tatsächlich hat K.-F. mich bisweilen mit einer maßlosen Selbstüberschätzung konfrontiert. Ich entsinne mich eines Streits mit ihm kurz vor meiner Abfahrt zu einer Transportgesellschaft, für die ich einen Lastzug zu fahren hatte. Ich war genervt und versetzte einem seiner "Objekte", einem mit stabiler Lackfarbe bemalten Stück Baumstamm, einen Fußtritt, so daß es umkippte. Mein Bruder trumpfte auf: "So, jetzt rufe ich die Polizei, der Lastwagen bleibt stehen!"
Natürlich war er damit erfolglos, zumal das Objekt nicht leicht zu beschädigen war, schon gar nicht auf dem weichen Teppich. Vor Allem war es kaum etwas wert; K.-F. mußte froh sein, wenn er einen zahlenden Abnehmer fand. Meines Wissens hat er die meisten dieser Objekte verschenkt. Übrigens soll er, unserer Mutter zufolge, bereits viele Male die Polizei wegen mir angerufen haben, natürlich immer erfolglos. Auch in die geschlossene Psychiatrie hoffte er mich überführen zu können, indem er Briefe (Reiseberichte) ungelesen an die Staatsanwaltschaft weiterreichte.
Von dieser unangemessenen Selbsteinschätzung zeugt auch das folgende Ereignis: Ich war im Streit mit der Mutter; K.F. war anwesend und glaubte vermutlich, er sei durch sie zum Handeln autorisiert. Für mich unerwartet zog er eine Gaspistole (zur Selbstverteidigung oder gegen angreifende Hunde) und schoß auf mich - im Wohnzimmer! Es klappte nur nicht: Während ich gar nichts abbekam, hatte er einen großen nassen Fleck auf dem Rücken, und der scharfe Gasgeruch trieb ihn in den Garten, wo die Nachbarn ihn zu sehen bekamen, die Pistole wohl noch in der Hand.
Unserer Mutter war dies Ereignis furchtbar peinlich, ihm selbst wahrscheinlich weniger. Er verstand es, aus Allem, auch aus Niederlagen, eine unterhaltsame Geschichte zu machen. Man konnte ihn insoweit nicht sehr ernstnehmen, jedenfalls nicht so, wie er sich selber ernstnahm.
Wie kann ich das Bild des Bruders nunmehr abschließen? Einen Hofnarren möchte ich zeichnen, der sich fälschlich ein wenig auch mit des Königs ranghöchsten Beamten identifiziert hat.
Rückbleibend scheint mir, daß ich von meinem Bruder ein überwiegend ungünstiges Bild gezeichnet habe. Zugleich aber frage ich mich: Werde ich, wenn ich abgeschlossen habe, ein besseres Bild abgeben? Da bin ich mir nicht sicher. Auch mir hat man Mangel an Demut vorgeworfen, sicher zurecht, wie ich zunehmend erkenne. Egal, ob vorliegende Darstellung gut oder schlecht gelungen ist, sie gibt jedenfalls Anlaß auch zur kritischen Selbstreflexion ihres Schreibers.