Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Kindheit in Aurich

Diese Unterseite wurde ins Netz gestellt am 26-11-09.
Letzte Bearbeitung am 3-3-2012.

1. Bilder

Thomas am Eßtisch

Ich wurde geboren am 23. Januar 1950 um 11h35 in der Geburtsklinik Berlin-Charlottenburg (Pulsstraße, nahe dem Schloß). Meine Erinnerung reicht nur bis in die Auricher Zeit zurück. Dort lebten wir in zwei Zimmern, einer Art Wohnküche und einem Zimmer mit Gartenblick, im ersten Stock des Hauses Leerer Landstraße 16. Kürzlich (am 2-3-2012) war ich, nach Jahrzehnten, wieder für einen Tag in Aurich. Das Haus, Baujahr 1904, steht noch; die Wohnung ist bewohnt; der Garten jedoch ist einem Parkplatz gewichen, und überhaupt ist die ganze Umgegend jetzt völlig verändert.

Mit Uschi Roßwaag im Garten

Zu den Häusern dieses Teils der Straße gehörten damals lang gestreckte Hintergärten. In unserer Parzelle hatten wir Kinder (mein älterer Bruder und ich) einen rechteckigen Teich, zeitweilig einen Sandkasten, den wohl mein Vater angelegt hat. Vom Nachbargarten nordwärts trennte uns ein Graben, den wir aber überspringen konnten. Drüben trafen wir die gleichaltrige Monika und ihre kleine Schwester Dörte sowie - bisweilen - einen noch kleineren weißen Hund, den ich fürchtete, weil er furchtbar laut bellen konnte. Er hieß Flock. An ihm pflegte ich meinen verzweifelten Mut zu erproben, indem ich ihn durch Zurufe provozierte, und sofort weglief, wenn er wütend losbellte. Er dagegen lief nie vor mir weg, vielleicht, weil er erwachsen war. Hinter dem Nachbargarten verlief der Lüchtenburger Weg, den wir täglich gingen, um zum Kindergarten zu gelangen.

Die Kindergärtnerin

Im Bild oben sehen Sie mich links im Vordergrund; rechts meinen älteren Bruder; zwischen uns das Mädchen der Nachbarn, die über uns wohnten. Sie hieß etwa Uschi Roßwaag.

 

 

 

 

 

Mit dem Kindergarten verbinde ich angenehme Erinnerungen, auch wenn ich mich entsinne, einmal die Frage meiner Mutter, ob ich noch zum Kindergarten wolle, verneint zu haben. Die Leiterin, eine Frau Charlotte Weigel, genannt Tante Lotte, war sehr nett; ihre beiden Söhne haben uns später gelegentlich besucht.

Abschiedsfest im Kindergarten

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem Foto oben ist zu sehen, wie sie gerade ihre Kinderschar vom Spielplatz zurückführt.

Links sehen Sie mich mit Cowboyhut im KIndergarten während eines Kostümfestes zu Ostern 1956, kurz vor der Einschulung. Es war gewissermaßen ein Abschiedsfest.

 

Das Bild unten zeigt die Klassenlehrerin Frau Rümpler mit ihrer Klasse vor der Lambertus-Volksschule, die ich damals besuchte. In dem Kind ganz oben links erkenne ich mich wieder.

25-9-57 Wir Kinder im Garten

 

 

 

Das Foto rechts trägt den Datums-Vermerk "25.9.57" und ist erkennbar im Auricher Garten aufgenommen worden.

 

 

Darunter sehen Sie zwei Aufnahmen vom Weihnachtsfest 1957. Mein Bruder hatte unter Anderem Rollschuhe erhalten. Ich bekam eine Modelleisenbahn geschenkt, nachdem ich monatelang in einem Märklin-Katalog geblättert und im Spielzeugladen "Schütt & Duis" mich umgesehen hatte, ohne mich entscheiden zu können. Ein Trafo kostete nämlich bereits 16 Mark, die kleinste Lok ebensoviel. Beides zusammen aber, so hatte meine Mutter mir erklärt, würde ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Gemessen an den heutigen Preisen mag das komisch klingen, aber damals war es eben so. Folglich hatte meine Mutter sich zu einer großspurigen, aber bezahlbaren Bahn entschlossen, die mir gleichfalls Freude bereitete, wenn sie auch nicht ausbaufähig war.

Weihnachten 1957,1 Weihnachten 1957,2

 

 

 

 

 

Auf dem Bild rechts ist noch ein Detail zu erkennen, dessen kürzliche Wiederentdeckung in mir Wehmut und Freude zugleich ausgelöst hat: Eines meiner Mecki-Bücher. Dieses trägt den Titel "Mecki bei den Negerlein." Ob ich die fünf Vorgänger-Bände (Mecki im Schlaraffenland; bei den 7 Zwergen; bei den Eskimos; bei den Chinesen; bei den Indianern) zuvor bereits oder vielmehr später geschenkt bekommen hatte, ist fraglich, da ich ja gerade erst lesen konnte. Jedenfalls erscheint mir dieses Bild insofern nicht ganz bedeutungslos, als Afrika für mich eine besondere Bedeutung bekam und noch mindestens einmal sein Zeichen vorauswarf, wie ich in den nachfolgenden Kapiteln erläutern werde.

Übrigens habe ich vor wenigen Jahren fast alle Meckibücher nochmals erwerben können, größtenteils als billige Neuausgaben im Modernen Antiquariat, zum anderen Teil als alte Ausgaben auf dem Flohmarkt. Es war mir (und ist mir heute noch!) eine wirkliche Freude, sie meinem Sohn immer wieder vorlesen zu können.

Im Kindergarten in Glücksburg

 


 

Einmal während der letzten Auricher Jahre wurde ich mit meinem Bruder für einige Wochen in ein Heim auf der Insel Langeoog geschickt - wie es hieß, zu unserer Erholung. Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich eine Erholung nötig gehabt hätte; wohl aber kann ich mich entsinnen, daß ich unter diesem Aufenthalt sehr gelitten habe und nach meiner Rückkehr froh war, es überstanden zu haben. Zum Teil mag das an meiner unzureichenden Anpassungsfähigkeit gelegen haben. So bereitete mir das erzwungene Essen einer sogenannten Milchsuppe, in der unaufgelöste Griesbrocken schwammen, einen unüberwindlichen Ekel.

Der hauptsächliche Grund war allerdings die Anwesenheit einiger schwer erziehbarer Jugendlicher. Einmal wurde ich von ihnen im Bett verprügelt, weil ich wohl zu laut fantasiert hatte. Aber auch die Erzieherinnen, die mich übrigens gut behandelten, fühlten sich bedroht, wenn auch nicht im Hause selbst. Während eines Spaziergang auf der Insel sagte unsere Begleiterin unvermittelt, wir müßten jetzt einen Umweg nehmen, um nicht gewissen Jugendlichen zu begegnen, die es auf sie abgesehen hätten. Ihr Ausdruck von Angst und ihre nervöse Erregung sind mir heute noch in deutlicher Erinnerung.

Letztes Bild aus Aurich

In einem anderen Erinnerungsbild sehe ich mich ebenfalls während eines Ausflugs, jammernd, in der Befürchtung, mir in die Hose zu machen. Vielleicht hatte ich es auch schon. Grund dafür dürfte es gegeben haben, denn die besagte Milchsuppe war nicht das einzige Essen, das mich "ankotzte". Wir werden von zwei jungen Frauen begleitet; die eine kommt mir zuhilfe, verteidigt mich gegen die hänselnden Kameraden und wirft ihrer Kollegin vor, meinen Ausbruch der Verzweiflung nicht zu beachten. Im Bild oben rechts glaubte ich sie wiederzuerkennen; auf der Rückseite schrieb meine Mutter allerdings "im Kindergarten", wahrscheinlich in Glücksburg. Denn auch dort wurden wir anfangs in andere Hände gegeben.

 

 

 

Links sehen Sie das letzte Bild von uns in Aurich; es trägt den Vermerk "1960". In diesem Jahr, genauer gesagt in den ersten Januartagen, sind wir umgezogen nach Bonn. An zwei der Möbelpacker und an die Fahrt selbst auf der hinteren Sitzbank im Möbelwagen kann ich mich noch erstaunlich genau erinnern. Die riesigen blauen Autobahnschilder imponierten mir; bis dahin war ich nur auf Landstraßen und per Schiff gereist. Nach unserer Ankunft aber ergriff mich eine große Enttäuschung und ein verzehrendes, viele Monate, vielleicht Jahre anhaltendes Heimweh - doch davon im Kapitel über unsere Zeit in Bonn.

 


2. Seelenleben

Für die folgenden Abschnitte werden Sie, lieber Leser, auf Ihre eigene Einbildungskraft angewiesen sein, denn von meinen inneren Erlebnissen, um die es nachfolgend gehen soll, gibt es keine äußeren Zeugnisse. Ich selbst sehe allerdings in der Beschreibung dieser Erlebnisse meine vordringlichste, schwierigste, aber auch lohnendste Aufgabe. Den Anfang will ich mit der Beschreibung von Gefühlen und Stimmungen machen, die mehr oder weniger für alle Kinder charakteristisch sind; den Schluß mit den Gefühlen, deren allgemeines Verständnis schwieriger sein mag.

Mit dem Einsetzen der Dämmerung bis hin zum Einschlafen hielt mich nicht selten die Furcht vor imaginären Wesen in Atem. Ich teilte sie mit den Kindern der Nachbarschaft, wenn wir uns gemeinsam in der Nähe dunkler Hecken und anderer düsterer Stellen bewegten. Es war ein Gruseln, eine Angst verbunden mit Lust, die sich oft an Mutproben entzündete, indem wir tollkühn in finstere Ecken vordrangen und wieder zurücksprangen. Dann erzählten wir uns gegenseitig von fantastischen Fabelwesen; und indem wir ihnen bisweilen auch fantastische Namen gaben, nahmen einige von ihnen zunehmend feste Gestalt an.

Abends im Bett erlebte ich klarer konturierte Wesen, und diese in so unausweichlicher Nähe, daß ihr Erlebnis mich oft am raschen Einschlafen hinderte. Da war zunächst das Krokodil, das ich "in Wirklichkeit" natürlich nie gesehen habe und das auch nicht sehr groß gewesen sein konnte, da es unter meiner Spielzeugkommode wohnte. Leider aber stand diese Kommode fast unmittelbar neben meinem Bett.

Das Krokodil verfolgte mich bis in meine Träume. An einen dieser Träume, der allerdings tröstlich war, kann ich mich gut erinnern: Da befand ich mich tags in unserem Garten. Neben mir stand ein Kamerad, der auf eine Art Wandkalender an einem Baum zeigte und mir versicherte: "Heute kommt das Krokodil nicht." Er trat gleichsam in der Gestalt eines "Alten Weisen" auf. - Ein andermal wachte ich schreckhaft auf mit der Vorstellung, daß das Krokodil mich gebissen habe. Im Moment des Erwachens wurde mir klar, daß meine Mutter mich gerade schlug, vielleicht weil ich geschrieen und sie dadurch gestört hatte.

Türklinke

Das beklemmendste aller konturierten Wesen aber war die Türklinke. Die Türklinken waren damals nicht so nüchtern gestaltet wie heute. In unserem Hause bestanden sie aus einem schwarzen, konisch geformten Rundholz, das am Ende und zur Achsverbindung in kunstvoll gedrehte Metallteile eingefaßt war. Es wurde der Fantasie dadurch Vorschub geleistet, in ihnen schlangen- oder drachenartige Wesen zu erblicken. In dem Maße nun, als mein Tagesbewußtsein sich dem des Traumes annäherte, verursachte der Anblick der Türklinke in mir eine bisweilen so starke Angst, daß ich mich an die Wand des Bettes preßte und versuchte, den Atem möglichst anzuhalten.

In späteren Jahren begann ich, diese Angst zu reflektieren und mich über den rationalen Hintergrund zu befragen. Hatte ich als Kind etwa angenommen, daß die Türklinke sich von ihrem angestammten Orte lösen und auf mich zukommen, am Ende ihres Fluge mich gar angreifen würde? Nein, soweit ging meine Vorstellung nicht. - War sie vielleicht Fixpunkt eines erschreckendes Ereignisses, etwa die plötzliche Öffnung der Tür durch einen Erwachsenen, der im Begriffe war, mich zu strafen? Nicht, daß ich mich an Dergleichen erinnern konnte. - War sie Sinnbild eines "Hüters der Schwelle", an den Tod und an andere Grenzsituationen gemahnend, so wie er im okkultistischen Schrifttum und in gewissen romantischen Märchen beschrieben wird? Ich weiß es nicht.

Zwischen dem Draußen und dem Drinnen gab es aber noch eine Zwischenzone im Innneren des Hauses, nämlich das Treppenhaus. Wir wohnten im ersten Stock; also mußte ich, um zu unserer Wohnung zu gelangen, zwei Treppen passieren. Diese waren vollständig aus ziemlich dunklem Holz, wobei besonders ihre kunstvoll gedrechselten Stäbe und Pfosten auf mich starken Eindruck machten. Es schien ihnen nämlich, in der Dämmerung jedenfalls, die Neigung innezuwohnen, wenn nicht gar menschliche Gestalt anzunehmen, so dennoch irgendwie lebendig zu werden, besonders dann, wenn ich gerade nicht hinguckte.

Einmal träumte mir, ich säße mit meinen Eltern und wohl auch noch anderen Personen im Halbdunkel am Essenstisch; doch waren alle diese Personen dem Aussehen nach gleichzeitig lebendige Treppenpfosten oder auch große Schachbrettfiguren. Ob sie ursprünglich Menschen gewesen waren und nun gleichsam verzaubert, oder ob es zuerst Figuren waren, die zu Menschen wurden, war nicht zu entscheiden. Dabei war mir keineswegs ängstlich zumute; im Gegenteil, die Atmosphäre war beinahe anheimelnd, zumal die Figuren der Reihe nach, mit Bezug auf die Speisen, freundlich fragten: "Möchtest du noch etwas von...?"

In anderen Träumen und Einschlaf-Fantasien erlebte ich die abendliche Dämmerung des Hauses dagegen als beängstigend. Einmal wurde ich im Traum von einer Hexe verfolgt mit halbnacktem Körper und Hängebrüsten. Zuletzt verwandelte sie sich in meine Mutter, und ich wachte verängstigt auf. Vielleicht war es auch eher so: Die Mutter entpuppte sich als Hexe; es kam auf Dasselbe hinaus. Ähnlich ein anderer Traum: Ich war in einem Haus gegenüber der Straße; dort standen überall weiße Gipsfiguren; die Stimmung war durchaus unheimlich. Dann wurde eine dieser Figuren beweglich, verfolgte mich bis über die Straße und nahm die Gestalt meiner Mutter an; ich konnte ihr jedoch entfliehen.

Überhaupt trat die Mutter in meinen Träumen fast immer als eine Verfolgerin oder jedenfalls als schimpfende, quälende Gestalt auf. Einmal erschien sie allerdings selber als Opfer, und zwar einer Katze, die ihr die Augen auskratzte, nachdem sie auf meine Frage, ob Katzen gefährlich seien, geantwortete hatte: "Nein, eigentlich nicht." Diesen Traum schrieb ich nieder im Hausaufgabenheft, trug ihn in der Schule auch mit Begeisterung vor (ich fand ihn witzig), und war verwundert und etwas enttäuscht, als die Klassenlehrerin meine Geschichte gar nicht lobte.

Der einzige Ort, den ich auch abends und nachts als angstfrei erlebte, ja zu dem ich mich während der ängstlichen Erlebnisse hinaussehnte und der mir dann wie ein Paradies erschien, war unser Garten. Er schien bewohnt von glücklichen Wesen, die irgendwie identisch waren mit den Blumen. Von ihnen träumte oder fantasierte ich einmal, daß sie mich gastlich in ihre Mitte nahmen und ich mit ihnen tanzte, in sanften Bewegungen, wie sie auch entstehen, wenn der Wind über ein Kornfeld weht.


Ein anderes Gefühl, besser gesagt ein Affekt, der mich als Kind häufig befiel, war die Wut. Ja, so verträumt und so abwesend ich auch dahinlebte: Wenn mich etwas aus der Traumwelt herausriß, dann war es oft die heftige zornige Erregung. Und diese richtete sich fast immer gegen meine Mutter. Bot sie mir Anlaß? Das sicher auch, denn es war die Zeit der beginnenden Trennung von meinem Vater, danach die Zeit des jahrelangen gerichtlichen Streites. Infolgedessen war die Frau oft auf das Äußerste gereizt und mißgelaunt und konnte anscheinend nicht anders, als uns Kinder das spüren zu lassen.

Davon abgesehen liebte sie es, zu provozieren; vor Allem liebte sie es, das letzte Wort zu behalten. Ob sie insofern und überhaupt ein schlechterer Mensch war als ich, das möchte ich allerdings nicht entscheiden. In mancher Hinsicht waren wir uns einfach ähnlich. Angeblich soll ich schon als Kleinkind durch häufiges unstillbares Wutgebrüll die Umgebung zur Verzweiflung gebracht haben.

Wie dem nun sei: Was mich von meiner Mutter damals unterschied, war, daß ich mich gegen sie nicht ernstlich wehren konnte. Da ich aber auch nie dazu neigte, mich Anderen zu unterwerfen, nahmen mein angestauter Zorn und meine Rachsucht ein derartiges Maß an, daß ich, nachdem ich schreiben gelernt hatte, ein Heft führte, in das ich nach jedem Streit die Reparations-Zahlungen eintrug, die meine Mutter irgendwann an mich zu entrichten hätte. Anders als die Reparationsforderungen der Siegermächte des Ersten Weltkrieges handelte es sich allerdings um Pfennigbeträge. Ich weiß auch nicht, wie lange ich diese Gewohnheit beibehielt, denn schon meine Unstetheit hat mich daran gehindert, ein Heft jemals vollzuschreiben. Einzig Klopapierrollen nutze ich immer bis zum letzten Blatt.

Ich entsinne mich, einmal wutentbrannt aus dem Garten in die Wohnung gelaufen zu sein und die (hölzerne) Streitaxt, welche Teil meiner Indianer-Kleidung war, der Mutter in die Seite gerammt zu haben. Über diesen Mut bin ich heute noch erstaunt, denn so wie unser Kräfteverhältnis damals war, hätte ich mir diesen Angriff nicht leisten dürfen. Jedoch reagierte meine Mutter, soweit ich mich entsinne, ebenfalls eher verwundert, ja sie erzählte mir und Anderen noch viel später mit Verwunderung von diesem Ereignis.

Übrigens muß dieses Ereignis in ziemlich genau dieselbe Zeit gefallen sein, in der meine Mutter mich, wie schon berichtet, aufgrund eines Beinahe-Verkehrsunfalles während mehrer Tage zusammenschlug. In diesen Situationen war ich völlig eingeschüchtert, wie ich mich überhaupt leicht habe einschüchtern lassen, auch durch andere, selbst kleinere Kinder. Geriet ich aber in einen Zorn, der mich aus dem Tagtraum herausriß und verband sich dieser Affekt zudem mit der Überzeugung, Unrecht erlitten zu haben, dann konnte ich schon damals eine Art Todesmut entwickeln, der, so vernunftwidrig er auch sein mochte, seine beeindruckende Wirkung nicht verfehlte. Die Übergänge zwischen Schüchternheit, ja Feigheit einerseits und anderseits jähzorniger Aufwallung ohne Folgenerwägung, sie waren ziemlich schroff.


Mit der Schulzeit wurde die Trauer zu einem weiteren Thema. Keineswegs lag es daran, daß ich in der Schule schlecht behandelt worden wäre. Im Gegenteil, die Klassenlehrerin, Frau Rümpler, sowie die anderen Lehrer waren, soweit ich mich erinnere, durchwegs wohlwollend und freundlich; auch unter den Mitschülern war niemand, der sich durch auffällige Brutalität ausgezeichnet hätte. Aber es begann eben eine Zeit der Anforderungen, welche die Kindheitsphase des meist angenehmen, oft glücklichen Tagträumens abschloß. Wenn ich gefragt wurde, wie mir die Schule gefalle, so antwortete ich mit einem vernichtenden Urteil, ohne Bewußtsein darüber, daß ich in Wirklichkeit einen neuen Lebensabschnitt beurteilte.

Nicht ausschließen möchte ich, daß für das neue Lebensgefühl meine zweimalige, jeweils 3 Monate anhaltende Trennung von der Mutter mitursächlich war, die ich im Alter von 2 bzw. 3 Jahren erlebte. (Ich habe diese Trennungen und ihre Ursache im Abschnitt über die Mutter erwähnt.) Einer der eindrücklichsten Träume, die mir im Gedächtnis geblieben sind, vielleichst zugleich der früheste, beinhaltet jedenfalls den Verlust der Mutter: Sie verabschiedete sich von mir; dann versuchte ich sie wiederzufinden und lief, von tiefster Trauer und zugleich beseligender Hoffnung erfüllt, den ganzen Tag am Glücksburger Strand entlang. Es war ein glücklich-unglückliches Mischgefühl, das mir heute noch, bei der Niederschrift, die Tränen in die Augen treibt. Sollte es sich im Traumgeschehen um eine Nachwirkung an die realen Erlebnisse handeln - aus früher Kindheit behält man bekanntlich keine Erinnerung -, so war also das Geschehen lediglich in Ort und Zeit versetzt.


Bald nach der Einschulung muß es gewesen sein, daß Gedanken an Selbstmord in mir aufkamen. Über die Art der Durchführung, nämlich des Ertrinkens im Ems-Jade-Kanal, der zu Fuß leicht erreichbar war, machte ich mir genaue Vorstellungen. Gottseidank fehlte mir aber der Mut, diese Vorstellungen umzusetzen. Ich war schlichtweg zu feige. Das wußte auch meine Mutter, der ich davon erzählt hatte. Mit ihrer wie üblich schwachen, aber wutbebenden Stimme erklärte sie: "Wenn du mich erpressen willst" - ich weiß nicht, wie der Satz zuende ging; jedenfalls drohte sie mir mit Anrufung der Polizei, falls ich bis zu einer bestimmten Stunde nicht wieder zuhause sei. Das wirkte. Die Selbstmordabsicht kann also wirklich nicht sehr ernst gewesen sein; dennoch blieb sie eine gewisse Zeitlang mein Thema.

Zusatz 17-8-2011: Es mag merkwürdig erscheinen, daß ein Junge, der an Selbstmord denkt, das Ertrinken wählt. Augenblicklich, bei Lektüre der "Undine" von Fouqué und nachfolgender Besinnung auf mein Leben, fällt mir ein, daß meine Mutter, wenn sie, was in der Zeit der Elterntrennung nicht selten geschah, von Selbstmord sprach, die Worte "ins Wasser gehen" benutzte. Noch viele Jahre später sagte sie in bestimmten Zusammenhängen, wenn auch eher scherzhaft: "Dann kann ich ja gleich ins Wasser gehen." Übrigens hat die Frau des Bruders ihres Vaters tatsächlich auf diese Weise ihr Leben beendet. Sie soll im Zustand seniler Verwirrung ins Bassin der familieneigenen Gärtnerei gesprungen sein, nachdem sie ihre Hausschuhe am Beckenrand wohlgeordnet abgelegt hatte.


Sofern ich das Wort "Trauer" damals in den Mund nahm, bezeichnete ich damit eher eine allerdings häufig auftretende elegische Regung zwischen Langeweile und Sehnsucht in unbestimmte Fernen der Vergangenheit und des Raumes. Oft sang (besser: summte) ich dabei, ständig wiederholend, Melodien ab, welche diese auch irgendwie genußvolle Trauer zum Ausdruck brachten und verstärkten.

Gegen Ende meiner Auricher Zeit entwickelte ich eine Weise, der Langeweile Herr zu werden, indem ich in sehr schnellem Schritt die Straßen bis an die andere Stadtgrenze hin abwanderte, um dann wieder zurückzukehren, dieses ständig wiederholend, bis der Nachmittag vorüber war. Mein Weg war dabei immer der gleiche. Ich muß teils wie ein Roboter, teils wie ein Verrückter gewirkt haben, der, von äußerst bewegtem Innenleben erfüllt, die Welt um sich herum nicht mehr richtig wahrnahm. Für mich selbst war das durchaus angenehm, denn ich war erfüllt von Rauschzuständen. Ich spann Geschichten aus, die mich selbst meist zum Helden hatten. Meiner Mutter, der hierüber berichtet wurde, war das allerdings peinlich. Natürlich hatte sie auch Grund zur Sorge, da mein Verhalten die Verkehrteilnehmer zu besonderer Rücksicht zwang.

Abseits von dieser Ausgleichsstrategie nahm die Trauer gedankliche Formen an. Anfangs hatte ich, wie wohl jedes Kind, an den "lieben Gott" geglaubt. Irgendwann stellte ich ein Mißverhältnis zwischen den Gott beigemessenen Attributen und der Wirklichkeit fest. Darüber muß ich wohl geredet und den Rat erhalten haben, es mit dem Gebet zu versuchen. Jedenfalls versuchte ich es damit für kurze Zeit, gewissermaßen um Gott eine Chance zu geben, aber es wirkte nicht. Daraufhin traf ich eine Entscheidung, die weniger in einer Unglaubwürdigkeits-Erklärung als vielmehr in einer trotzigen Absage bestand, so wie jemandem gegenüber, der seine Versprechen nicht wahrmacht und jetzt zur Selbstbesinnung verurteilt werden muß: Ich beschloß, nicht mehr an Gott zu glauben, vielmehr seine Existenzu leugnen. (Erst ziemlich genau in der Lebensmitte hob ich diese Entscheidung wieder auf.)


Bei der bisherigen Lektüre könnte Ihnen, lieber Leser, die Frage gekommen sein, wie es denn mit meinen Freundschaften bestellt gewesen ist, die ja für Kinder in diesem Alter meist eine große Rolle spielen. Nun, ich würde übertreiben, wenn ich sagte, daß meine Einsamkeit einem vollständig freiem Entschluß entsprang. Die Fähigkeit, auf Andere zuzugehen, in ihnen den Willen zur Freundschaft zu wecken sowie diese dann auch zu pflegen, war mir nur in geringem Maße gegeben; auch verschloß ich mich nach erlittenen Verletzungen schnell.

Anderseits sah ich in der Einsamkeit aber auch einen durchaus erstrebenswerten Zustand. Vor Allem wollte ich mich unterscheiden. Nie hatte ich das Bedürfnis, so zu sein wie Andere, zum Beispiel ein Kleidungsstück zu tragen, nur weil es Mode war. Selbst Hänseleien, so einmal, als ich auf dem Schulhof mit den Mädchen spielte, nahm ich unter dieser Voraussetzung gerne inkauf. Was Andere zur Aufgabe veranlaßt hätte, gereichte mir zur Selbstbestätigung.


Nun komme ich zum schwierigsten Gegenstand meiner Selbstbeschreibung; das sind die Glücksgefühle. Gefühle überhaupt, so habe ich bei Rudolf Steiner gelesen, sind gebunden an einen Grad von Bewußtsein, der zwischen Wachen und Schlafen liegt, somit dem Träumen eignet. Tatsächlich traten die Gefühle, von denen ich jetzt reden will, in ihrem höchsten Grade immer während meiner Träume, nicht selten kurz vor dem Erwachen auf, wie ich auch, mehr noch als andere Kinder, zum Tagträumen neigte.

Diese Träume hatten, wie alle Träume, irgendeinen Bild- und Handlungsgehalt, aber der war meist völlig unbedeutend. Entscheidend dafür, daß ich in ihnen das weitaus Wichtigste in meinem Leben sah, war einzig ihr Gefühlsgehalt. Versuchen Sie, sich Szenen Ihres Lebens zu vergegenwärtigen, in denen Sie, von höchster Begeisterung getragen, ein Ziel verfolgten; oder vergegenwärtigen Sie sich Szenen Ihrer ersten heftigen Liebe, und nehmen Sie nur das in den Blick, was man als die je eigentümliche "Stimmung" zu bezeichnen pflegt.

Sie erleben dann ein Glücksgefühl, aber mit dieser Kennzeichnung ist es nicht getan. Genaugenommen handelt es sich um eine Vielzahl von Gefühlen, deren jedes eine unverwechselbare Nuance hat und darin einem stetigen, insofern "objektiven" Erinnerungsbild gleicht. Doch darf das Gefühl mit einem solchen Erinnerungsbild nicht verwechselt werden; es ist mit ihm nur verknüpft. Denn wenn Sie den äußeren Gegenstand, von dem das innere Bild seinen Ausgang nahm - nehmen wir die Puttenfigur in einem barocken Schloßgarten während abendlicher Dämmerung - unter anderen Umständen wiedersehen und dann nur lange genug betrachten, so entsteht dasselbe innere Bild, aber ein anderes Gefühl, vielleicht ein nur sehr fades, oder gar, den Umständen gemäß, ein unangenehmes Gefühl. Das ursprüngliche Gefühl, das Sie aufgerufen haben, bringt also zwar ein Erinnerungsbild mit sich, hat aber eine Existenz für sich. Es ist eine "objektive" Existenz insofern, als Sie es nicht willkürlich verändern können. Nur verblaßt es mit der Zeit.

So objektiv ein Gefühl der beschriebenen Art einerseits ist, so ist es anderseits höchst subjektiv insofern, als Sie es Niemandem wirklich mitteilen können. Indem Sie das versuchen, müssen Sie es zugleich verallgemeinern und damit einer Klasse zuordnen, die sich unterscheidet von anderen Klassen, zum Beispiel der Klasse von Gefühlen, die körperlichen Vorgängen oder zwischenmenschlichen Beziehungen zugeordnet sind. Hingegen können Sie sich nicht verständlich machen, indem Sie sagen: "Das Gefühl, das entsteht, wenn man die Puttenfigur X im Schloßgarten von Y zur Uhrzeit Z betrachtet." Sie bleiben mit diesen Erlebnissen also absolut einsam. Selbst wenn das gefühls-erzeugende Ereignis an die Begegnung mit einem geliebten Menschen geknüpft war, so können Sie diesen zwar an das Ereignis erinnern und vielleicht in ihm Glücksgefühle auslösen; das können aber nicht dieselben sein, die Sie haben.

Gehen wir nun einen Schritt weiter. Vergegenwärtigen Sie sich einen Zustand der Trauer, der Bedrücktheit und Aussichtslosigkeit. Nun erweckt irgendeine Wahrnehmung - ein Bild, eine Melodie, ein Geruch - ein Gefühl der oben bezeichneten Art. Vielleicht taucht dieses auch, gewollt oder ungewollt, aus dem Schatz Ihrer Erinnerungen auf; es spielt keine Rolle. Jedenfalls taucht dann notwendig ein weiteres Gefühl auf, besser gesagt ein Komplex von etwa drei weiteren Gefühlen, welche das erste Gefühl einbetten. Bei diesem Komplex handelt es sich um: Ein aufloderndes Glücksgefühl, das Sie aus Ihrer Bedrückung plötzlich herauszieht, also "entzückt"; nachfolgend ein Schmerz der Trennung und des Verlustes; und zuletzt eine befreiende und beflügelnde Hoffnung, die das bisherige Gefühl der Mutlosigkeit auslöscht. Es ist das komplexe Gefühl einer wilden Sehnsucht, dessen Komponenten sich aber gut unterscheiden lassen, wenn ich mir auch nicht sicher bin, ob dies auch für den zeitlichen Ablauf zutrifft.

Von dieser Sehnsucht waren oft, aber nicht immer, die Glücksgefühle meiner Kindheit eingebettet. Sofern sie es waren, war dann die Sehnsucht meist auch mit einem bildlichen Motiv verknüpft war, etwa einem geliebten Menschen. Dieser trat aber nicht klar konturiert in Erscheinung, und ich war mir auch bewußt, daß er nur gleichsam ein Anker war. Das Gefühl der Liebe und Sehnsucht ging nämlich weit über seine Person hinaus und war auch durch sie gar nicht erklärbar; vielmehr umspannte es unermeßliche Raumes- und Zeitenfernen. Als Beispiel möchte den oben erwähnten Traum nennen, in dem ich am Strand meine Mutter suchte.

Es war übrigens der einzige Traum meiner Kindheit, in dem die Mutter Gegenstand meiner Liebe oder Sehnsucht war. Oder war sie es gar nicht wirklich; repräsentierte sie eine andere Person? Und falls ja, ist die Frau, die als meine Mutter galt, vielleicht gar nicht meine Mutter? Diese Vermutung überkam mich frühzeitig schon, und sie wird gestützt durch die Tatsache, daß ich zu meinem einzigen Bruder überhaupt keine innere Beziehung habe. (Es soll sehr selten vorkommen, daß Kinder nach der Geburt vertauscht werden - ganz ausgeschlossen ist es nicht.)

Aus solchen Träumen erwachte ich dann tränenüberströmt. Doch ob mit oder ohne die Komponente der Sehnsucht: Diese Glücksgefühle waren in Intensität und Qualität mit nichts Anderem vergleichbar; sie waren irgendwie "außerirdisch", besser wohl vor-irdisch, damit will ich sagen: aus der vorgeburtlichen Welt in diese Welt hineinragend. Sie kamen ja nicht durch Erinnerungen zustande, wie Sie oder ich sie als Erwachsene aufrufen können, um die entsprechenden Gefühle herbeiführen. Um nämlich seine erste Liebe oder seine erste große Begeisterung erleben zu können, muß man in die Pubertät gekommen sein, die Kindheit also abgeschlossen haben. Ich aber war ein Kind. Auf Erinnerungen meines jetzigen Lebens lassen sich meine Erlebnisse des Glücks also nicht zurückführen.

Bekanntlich leben Kinder mehr als Erwachsene in einer Welt des Träumens. Sie kommen erst nach und nach auf der Erde an. Ich wurde später als Andere zu einem Erwachenden und Erwachsenen, und dies auch nie ganz vollständig - zu meinem Glück, wie ich meine.


Es heißt, daß der reifende Mensch sich auf die Zukunft orientiert, der alternde hingegen auf die Vergangenheit. Anscheinend weicht mein Lebenslauf von dieser Regel in auffälligster Weise ab, denn erst nach meiner Lebensmitte begann ich, mich für die Gegenwart und Zukunft zu interessieren. Während all der Jahre davor war mein wachträumendes Sinnen und Sehnen einer kindlichen Vergangenheit zugewandt, die in einen Punkt der vorgestellten glückseligen Ewigkeit mündete, aus welcher der Zeitstrom meines Bewußtseins und meiner sehnenden Erinnerung hervorquoll. Ein "Davor" gab bzw. gibt es nicht. Denken Sie an ein sich drehendes Rad mit spiraligen Speichen, aus dessen Mittelpunkt der Raum herausquillt (und bei Richtungsumkehr hineinläuft): Es gibt keinen Raum innerhalb des Punktes; vielmehr ist dieser das Zentrum der Schöpfung, die den Raum und die Zeit überhaupt erst gebiert. Und mit diesem Punkt oder Zentrum kann sich das Gefühl der Heiligkeit verbinden.

Ich bemerkte an meinen Kameraden, und ich bemerke heute wiederum an meinem Sohn, daß Kinder sich für ihre eigene kurze Vergangenheit nicht interessieren. Das Vergangene ist ihnen nicht heilig und nicht verklärt; es hat keinen Glanz für sie, genausowenig wie etwa der überraschende Ausblick in einen paradiesisch anmutenden Blumengarten. Kinder sind altersgemäß nicht romantisch eingestellt; sie sehen in die Zukunft, ja nehmen in ihren Wünschen und Vorstellungen immer etwas die Zukunft voraus; und sie sind insofern bemerkenswert nüchtern. Bei mir war das keineswegs der Fall.

Beginnt ein menschliches Leben mit Bewußtseinseigentümlichkeiten alter Menschen, so liegt der Gedanke nahe, daß derjenige Teil eines Leben nachgeholt wird, welcher einst nicht ausgelebt werden konnte. Es kann sich dann also um eine Verkörperung handeln, die vorzeitig abgebrochen wurde. Nun behaupten die Reinkarnationsforscher übereinstimmend, daß vorzeitig verstorbene Menschen, Kinder zumal, sich auch vorzeitig wieder verkörpern, etwa in wenigen Jahren, oder auch schon nach Monaten. Ob diese Behauptungen zurecht bestehen, möchte ich hier nicht diskutieren, aber ich erkenne in ihnen eine innere Logik. Die nächste Frage könnte dann sein, unter welchen Umständen der vorzeitige Tod erfolgt ist.

Hier denke ich an die KZ-Lagerhaft meines Vaters und an Möglichkeiten seines vorangegangenen Schicksals; sodann an die Umstände des Krieges, der Verschleppung und Elterntrennung. Heimatlos zu sein und die "falschen" Eltern, vor Allem die "falsche" Mutter zu haben, das war mein frühes und lange anhaltendes Lebensgefühl. (Mein Bruder übrigens ist mir, trotz langjähriger Nähe, bis heute innerlich fast völlig fremd geblieben.) Ich spürte sehr deutlich, "anders zu sein als die anderen", aber nicht im Sinne einer abweichenden sexuellen Orientierung, wie man es heute meist versteht, sondern im Sinne einer abweichenden Biographie, eines abweichenden Lebensplans. Darauf will ich an späterer Stelle noch zurückkommen.


3. Lebensthemen

Gewisse Erlebnisse und Erfahrungen während meiner Kindheit in Aurich zeugen von Themen, die auch für mein weiteres Leben bestimmend blieben. Beginnen wir wieder mit denjenigen unter ihnen, die sich dem allgemeinen Verständnis am leichtesten erschließen.

Irgendwann nach Beginn meiner Schulzeit - vielleicht schon 1956, vielleicht auch ein oder zwei Jahre später - zog bei uns im Haus ein Händler für Elektrowaren ein, die er dort auch verkaufte und vertrieb. Er hieß Siebel oder Siebels; im Auricher Telefonbuch ist der Name, wie ich jetzt sehe, nicht (mehr) aufgeführt. Hinter dem Haus errichtete er ein Lager. Damit dieses für seinen Lieferwagen erreichbar war, mußte er ihm eine Zufahrt verschaffen, womit er teilweise den Garten zerstörte. Mein Bedauern hierüber fand allerdings einen Ausgleich in der Begeisterung für die Elektrotechnik, besser gesagt: für die Basteleien elektrischer und elektronischer Geräte. Vielleicht wäre ich sowieso darauf gekommen; dieses Ereignis war jedenfalls der Auslöser.

Wie alle Kinder pflegte ich vom Boden aufzuheben und in die Wohnung zu tragen, was mein Interesse erregte. Von nun an waren es Kabelreste und jede Menge Installationsmaterial, das ich heranschaffte, soweit meine Kommode sie aufnehmen konnte und soweit meine Mutter dies zuließ. Anders als sie unterstütze mein Vater meine Neigung. Zu einem der Weihnachtsfeste - ich weiß nicht mehr, zu welchem - schenkte er mir das Buch "Elektrotechnik für Jungen" von Heinz Richter. Dieses gereichte mir zur gründlichsten Lektüre, während ich an meine damaligen Schulbücher überhaupt keine Erinnerung mehr habe.

Meine erste Tätigkeit, wahrscheinlich noch vor diesem Buch, bestand darin, einen Elektromagnet zu bauen. Das war auch nicht schwierig: Ich nahm ein Stück Stabeisen und umwickelte es auf halber Länge mit isoliertem Kupferdraht in mehren Lagen, die ich mit Schichten von Papier voneinander trennte. An diese Tätigkeiten und ihre Ergebnisse habe ich vergleichsweise sehr genaue Erinnerungen. Den Draht hatte ich in einem Elekro- und Lampenladen in der Osterstraße gekauft, wo ich als schwieriger Kunde galt. Oder war es die Elektromotorenfabrik in der Leerer Landstraße? Jedenfalls bekam ich einen Wickel mit goldgelb lackierten Kupferdraht von etwa einem Millimeter Stärke, in den ich aus Unachtsamkeit viele kleine Knoten hineinbrachte, sodaß die Windungen dann auch nicht sauber aussahen. Aber immerhin funktionierte der Magnet, wenn ich die Drahtenden an eine Batterie anschloß. Mit diesem Magneten, zumindest aber stets mit irgendwelchen Batterien und Glühlämpchen in den Hosentaschen, durchstreifte ich sodann die Stadt.

In späteren Jahren verlagerte sich mein Interesse von der Elekrotechnik etwas weg und hin zur Radiotechnik und Elektronik, und zwar solange, wie Elektronenröhren in Gebrauch waren. Noch heute besitze ich eine "Röhren-Taschentabelle", und viele Röhrendaten kenne ich immer noch auswendig. Transistoren interessierten mich von Anfang an weniger; mit den "Chips" verlor sich meine Bastel-Lust so gut wie völlig.


Was die Musik betrifft, so knüpften sich an sie von frühester Kindheit an die glücklichsten Erlebnisse meines Wachbewußtseins. Jedoch war und ist mein Verhältnis zur Musik dermaßen außerhalb des Üblichen, daß es mich, sobald ich zu denken begann, auch wiederum verwunderte und mir immer noch Rätsel aufgibt. Bis heute nämlich kenne ich niemanden, mit dem ich die Besonderheit meines musikalischen Erlebens teile. Auch habe ich nie etwas darüber gelesen oder anderweitig in Erfahrung bringen können.

Unsere Mutter spielte uns jeden Abend ein Stück klassische Musik vom Plattenspieler vor. Es waren wenige Stücke von Beethoven, Mozart und Schumann, dazu noch eine kirchliche Chormusik. Doch obwohl ich sie irgendwann fast auswendig gekonnt haben muß und sie meist auch ganz gern hörte, blieben sie mir im Grunde doch eher gleichgültig; irgendwelche tieferen Erlebnisse verbanden sich damit nicht.

Ganz anders wirkten die Volkslieder auf mich, die wir im Kindergarten und in der Schule sangen. Ihre meist sehr einfachen Melodien lösten oft Glücksgefühle in mir aus - und tun es bis heute. Es waren Lieder, wie sie damals allgemein verbreitet waren, wie: "Nun ade du mein lieb Heimatland"; "Aus grauer Städte Mauern"; "Im Frühtau zu Berge", die Maienlieder und die Jagdlieder überhaupt, weniger stark die Weihnachtslieder.

Damals auch schon, später vor Allem waren es "Schlager", meist Instrumentalschlager der 50er Jahre, sowie entsprechende Stücke der Tanzmusik; ab den 60er Jahren fernerhin so manche Stücke des New-Orleans-Jazz, wie sie auch von europäischen Jazzbands gespielt wurden. Insbesondere waren es improvisierte Soli der Bläser, nicht selten die der Klarinettisten, die mich aufs Höchste begeisterten. Dazu im Vergleich empfinde ich etwa die Melodien des berühmten Klarinettenkonzerts von Mozart als überwiegend unoriginell, ja belanglos, wie überhaupt die klassische Musik mich "kalt gelassen" hat - abgesehen von den volksliedhaften Passagen, wie sie besonders in C.M.v.Webers Oper "Der Freischütz" zahlreich vorkommen.

Ich muß dazu bemerken, daß es sich nicht nur bloß um Euphorie oder "gehobene Stimmung" handelte, was die Volkslied-Melodien in mir auslöste. Vielmehr waren und sind es farblich sehr differenzierte, schwer zu beschreibende Gefühle, die sich übrigens decken mit den Gefühlserfahrungen, wie ich sie weiter oben (2.) beschrieben habe. Ferner sind sie jeweils auch eindeutig, das heißt, eine bestimmte Melodie ruft zwangsläufig immer dasselbe Erlebnis hervor, unabhängig von der Stimmung und seelischen Verfassung.

Mit zunehmender Entwicklung meines Denkvermögens habe ich versucht, der Sache "auf den Grund zu gehen", freilich mit nur teilweisem Erfolg. Ich habe mich gefragt und frage mich immer noch: Wie kommt es, daß ich mich in die moralischen Empfindungen z.B. Beethovens einfühlen kann, der größte Teil seiner Musik mir aber überhaupt nichts sagt? Andere Menschen habe ja beim Hören dieser Musik tiefe Erlebnisse. Ist es die Art dieses Erlebens selbst (abstrahiert von der Musik), die mir verschlossen bleibt, oder versagt bei mir bei dieser Musik nur die Verknüpfung zwischen Hören und Empfinden?

Entsprechend frage ich mich, warum die Versteher klassischer (oder auch z.B. atonaler) Musik sich an einfacher Dur-Melodik nicht erfreuen. In der Einfachheit liegt eventuell auch Erhabenheit. An derartigen Melodien stellt sich mir das aber keineswegs "theoretisch" dar, sondern wirkt, wenn ich so sagen darf, mit zwingender Gewalt. Ich werde an späterer Stelle darauf zurückkommen.


Im Folgenden komme ich auf weitere bleibende Themen zu sprechen, die jedoch eher die Stimmung meines Lebens untermalt haben, ohne seine Richtung zu beeinflussen.

Während meine Furcht vor Krokodilen mit der Zeit völlig dahinschwand, lernte ich, sobald ich lesen konnte, eine andere Furcht kennen, genauer gesagt eine ambivalente Faszination, bestehend aus Neugier und Abscheu, ja Grausen. Das war, als ich in "Herders Volkslexikon" den Artikel zum Stichwort "Bandwurm" entdeckte. Ich las sehr häufig in diesem Lexikon, was allerdings meiner Mutter, der gelernten Buchhändlerin, lästig war, da sie auf meine weitergehenden Fragen selten zu antworten wußte. In diesem Fall konnte sie mir nur sagen, daß mein Bruder mal einen Spulwurm gehabt habe, den mein Vater, um ihn dem Arzt zu präsentieren, in eine Flasche gesteckt habe.

Als Kind hatte ich selbst gelegentlich, wie wohl die meisten Kinder irgendwann, Madenwürmer gehabt, bekanntermaßen nur einige Millimeter lang. Größere Arten wie Spulwürmer oder gar Bandwürmer habe ich niemals, außer auf Bildern, zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht, ob ich das begrüßen oder bedauern soll. Es wäre das Einzige, von dem ich mir sicher bin, daß mich der Anblick - zumal wenn ich es als aus mir selbst kommend erfahren müßte - zu Tode erschrecken, zugleich aber meine stärkste Forscherbegier erwecken würde.

Diese Faszination ist mir also von Kindheit auf geblieben. Noch vor wenigen Jahren habe ich in der Universitäts-Bibliothek nach einem "Riesen-Bandwurm" recherchiert, über den in Herders Volkslexikon zu lesen ist, daß er in Schafen vorkomme und eine Länge von 60 Metern erreiche. Meine Nachforschung ergab: Es handelt sich wohl um "taenia expansa"; sein Entdecker ist der Franzose Monièz. In späteren Fachbüchern wird jedoch diese Längenangabe nicht mehr bestätigt. Vergleicht man die Erscheinungsjahre, so ist dieser Bandwurm immer kürzer geworden; heute findet man ihn mit maximal 10 Metern Länge angegeben. Damit ist er auch nicht länger als z.B. der Fischbandwurm und bisweilen der Rinderbandwurm, welch letztere beiden im menschlichen Darm vorkommen.

Die Größe, genauer gesagt: die Länge, begründet allerdings noch nicht das Faszinosum. Gerade Bandwürmer sind verhältnismäßig harmlos; Ausnahme davon bilden nur die Finnen des Hunde- und insbesondere des Fuchsbandwurm. Hier kann der Mensch als Fehlwirt fungieren, was freilich sehr selten vorkommt, dann allerdings ernstzunehmen ist. Es sind aber nicht nur Bandwürmer, die meine Neugier und gleichzeitig meinen Widerwillen dermaßen fesseln; es sind Eingeweidewürmer im Allgemeinen. Was liegt diesem Erleben zugrunde? Ich weiß es nicht. Eventuell besteht hiermit ein weiterer Bezug zu Afrika, insofern dort Eingeweidewürmer nicht nur häufig und in vielen Arten tatsächlich vorkommen, sondern auch im Bewußtsein der Menschen eine große, z.T. übertriebene Rolle spielen: So etwa, wenn als Ursache der Karies ein in der Zahnwurzel hausender Wurm vermutet wird.


Eine ähnlich ambivalente, jedoch eher von Furcht als von Neugier geprägte Faszination, entzündete sich mir am Anblick der Gliedmaßen-Verstümmelung. Auf dem Weg zum Kindergarten begegneten wir oft einem Kriegsversehrten ohne Beine, der sich auf einem Rollbrett fortbewegte; in der Nähe vom Kindergarten bisweilen anderen Versehrten, darunter einem Mann, der zuweilen eine unbedeckte Arm-Prothese erkennen ließ. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich mich an den Anblick dieser Kriegsopfer halbwegs gewöhnt, zumal meine Kameraden keine Beeindruckung erkennen ließen.

Nachhaltig erschreckt aber wurde ich durch einen Traum, in dem mir ein Mensch erschien, dessen einer Fuß nach hinten verdreht und sehr verlängert war. Zudem - ich erwähne dies nur, weil mir dieses an sich eher lustige Detail in so klarer Erinnerung geblieben ist -, trug er rot-weiß geringelte Socken. In großem Entsetzen erwachte ich und erzählte den Traum meiner Mutter. Ich fragte sie auch, ob ein Arzt in der Lage sei, diesen Defekt zu beheben. Sie antworte: Wenn es ein guter Arzt sei, ja. Ihre Nüchternheit beruhigte mich etwas.

Viel später, wahrscheinlich zum Ende unserer Zeit in Aurich, hörte ich, daß einem Ladenbesitzer, den ich ebenfalls kannte, aufgrund einer Diabetes ein Bein amputiert werden mußte. Diese Mitteilung beschäftigte, bedrängte und beängstigte mich wohl über mehre Wochen, vielleicht Monate, im Grunde noch länger.

Selbst bis in die jüngste Zeit löst irgend eine Erwähnung, insbesondere ein Bild von einer vollzogenen Amputation Mißgefühle in mir auf, die sich fast bis zu Zwangsvorstellungen steigern. Wenn ich müde bin, etwa vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen, kommt es vor, daß ich mich vergewissere, ob ich noch "vollständig" bin, und nur schwer glauben kann, daß tatsächlich alles an mir in Ordnung ist.

Könnten diese (Beinahe-)Zwangsvorstellungen verursacht sein durch die Reminiszenz an ein früheres Leben? Da ich über keine derartigen Erinnerungen verfüge, muß ich es dahingestellt sein lassen. Jedoch halte ich es für richtig, alle in sich widerspruchsfreien Erklärungen zuzulassen. Die Beschäftigung mit quälenden Vorstellungen hat nämlich überhaupt nur Sinn, wenn man sie zum Anlaß nimmt, seinen Erkenntnishorizont nach Möglichkeit zu erweitern.


 

Thomas als Kind