Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Erste Jahre in Bonn (1960-1964)

Diese Unterseite wurde ins Netz gestellt am 22-5-2011.
Letzte Bearbeitung am 23-5-2011.
Mein Bruder und ich

Anfang Januar 1960, ich wurde 10 Jahre alt, zogen wir um von Aurich nach Bonn. Der Lebensabschnitt, den ich jetzt beschreibe, erstreckt sich bis Ende 1964, also bis kurz vor meinem Wechsel in das Laubacher Internat.

Die wenigen Fotos, die ich aus dieser Zeitspanne besitze und die sich wiederzugeben lohnt, sind alle durch meine Mutter während der Sommerferien 1962 aufgenommen worden, und zwar in Glücksburg an der Flensburger Förde, wo die Eltern meiner Mutter wohnten, und wo wir jedes Jahr die Zeit während der Sommerferien verbrachten.

Ich war damals also zwölf und halb Jahre alt. Es war das Jahr, da mein Vater starb. Mein Bruder war gerade 14 geworden und wirkt schon deutlicher reifer, wie auf dem Foto rechts zu erkennen.

Unten links sehen Sie mich am Strand. Das Foto unten rechts zeigt mich auf der Schiffs-Anlegebrücke. Die Schiffe, die dort verkehrten, waren zwei Dampfer namens "Alexandra" und "Albatros", sowie zwei kleinere, damals moderne Dieselschiffe. Sie alle verkehrten mehrmals täglich zwischen Glücksburg und Flensburg, bisweilen auch dänischen Küstenorten. Vom oberen Deck der Dampfer konnte man durch einen Schacht bis in den Maschinenraum gucken. Einmal winkte mir der Maschinist von unten zu und bedeutete mir, nach unten zu kommen. Der Anblick der Dampfmaschine war beeindruckend! Sie hatte zwei verschieden große, vertikal arbeitende Zylinder. Die Hitze, die vom Kessel ausging, war fürchterlich. Dort arbeitete noch ein muskulöser Heizer mit nacktem, schweißüberströmten Oberkörper.

1962, Glücksburg, Strand

Auf den zwei Ausschnittfotos unten links und rechts dürfte der damals für mich wohl typische Ausdruck von Schüchternheit oder Verlegenheit gut zur Geltung kommen. Was die Schwarzweißfotos natürlich nicht wiedergeben, ist meine rötliche Haarfarbe, die mir noch weit bis ins Erwachsenenalter zueigen war. Als Kind hatte ich darüber hinaus Sommersprossen. Beide Merkmale sind mir später abhanden gekommen: Die Sommersprossen schwanden frühzeitig, während das Haar immer mehr dunkelblond wurde. Ein nur leichter Rotstich ist geblieben.

Das Bild in der linken Seitenspalte ist der Ausschnitt aus einem Foto, das am selben Tag aufgenommen wurde wie die beiden zuletzt erwähnten Bilder.

1962, bei den Kolßens 1962, bei den Kolßens

 

Doch nun der Reihe nach! Angekommen in Bonn, bezogen wir die im Parterre gelegene 2-Zimmer-Wohnung eines Neubaus in Bonn-Endenich, Hirschgasse 6. Das Haus war soeben erst bezugsfertig geworden; drum herum sah noch Alles nach Baustelle aus. Ich war enttäuscht und über viele Monate hinweg von einem heftigem Heimweh erfüllt. Wiederum bestand ein Teil meiner Tagesbeschäftigung darin, mich einsam in der Umgebung zu bewegen, diesmal allerdings auf einem Fahrrad, das ich kurz zuvor in Aurich - war es Weihnachten 1959? - geschenkt bekommen hatte, wie mein Bruder auch. Auf diese Weise konnte ich die Gegend um den Kreuzberg, den Venusberg, ein wenig auch den Kottenforst erkunden.

Bis zum Frühjahr 1961 besuchte ich die Magdalenenschule (heute: Matthias-Claudius-Schule). Meine Klassenlehrerin hieß Bochberg. Ihr autoritärer, oft cholerischer, dabei liebevoller Führungsstil hat in mir einen starken Eindruck hinterlassen. Wir mochten sie, denn es ging eine erwärmende, ermutigende Wirkung von ihr aus. Bei mir hatte das sehr gute Noten in Deutsch, im Rechnen, in der Heimatkunde und im Zeichnen zum Ergebnis. Im Fach Musik bekam ich - durch einen Fachlehrer - nur eine 4, weil ich zu schüchtern im Mitsingen war; meine Handschrift wurde gar nur mit 5 benotet.

Der Unterricht fand abwechselnd vormittags und nachmittags statt, ich glaube, im Wochenrhythmus. Meine Mutter hatte eine Halbtagsstelle als Schreibkraft zuerst im St-Johannes-Hospital, dann in der Landwirtschaftskammer. Während der Zeiten des Nachmittagsunterrichts war ich also allein der Wohnung, denn mein Bruder besuchte bereits das Gymnasium.


Elektro- und Radiobasteln. Nach wie vor waren die Schubladen meiner Kommode mit technischen Teilen gefüllt. Von der Mutter - vielleicht auf Rat des Vaters? - bekam ich, wohl zum Geburtstag im Januar 1961, einen kleinen Diodenempfänger geschenkt, der ohne Strom zu betreiben war, aber dafür auch nur mit einem Kopfhörer benutzt werden konnte. In der Folge war ich für längere Zeit mit dem Bau von Zimmerantennen beschäftigt, die sich viele Meter lang an der Wand über dem Fußboden oder auch unter der Decke erstreckten. Bald darauf bekam ich einen batteriebetriebenen Röhrenempfänger in einer Holzschatulle mit der Doppeltriode 3A5 zum Selbstbau, aus dem Katalog von Radio-Rim. Auch er konnte nur mit Kopfhörer benutzt werden.

Dann hatte ich Gelegenheit, ein altes Röhren-Netzgerät (mit Topfsockelröhren der A-Reihe) zu zerlegen. Als ich es wieder zusammenbauen wollte, scheiterte ich. Bald aber lernte ich löten und Bleche bearbeiten. Letzteres dürfte dazu beigetragen haben, daß ich bei meiner späteren Berufsausbildung in der Prüfung von allen Teilnehmern das genaueste Werkstück fertigen konnte. Irgendwann war ich jedenfalls soweit, daß ich nach Schaltplänen eigene Röhrenradios bauen konnte.

Bei Versuchen der Inbetriebnahme der Radios erlitt ich viele Male Stromschläge durch Spannungen über 300 Volt, die meiner Gesundheit aber wohl nicht geschadet haben, jedenfalls nicht unmittelbar. Schon bei meinen ersten "Berührungen" mit der Elektrizität im Alter von sechs oder sieben Jahren war ich so gedankenlos und unvorsichtig gewesen, die nackten Enden von Netzkabeln in die Finger beider Hände zu nehmen, was bei nicht ganz gesunden Menschen zum Tode führen kann. Insgesamt brauchte es zahlreicher solcher Schocks, bis ich zuletzt einen gehörigen Respekt vor hoher Spannung bekam und vorsichtiger zu hantieren lernte.


Liebe zum Sternhimmel. Ausgelöst wurde sie durch einen Artikel in einem der Kosmos-Jahrbücher, wohl im Herbst 1962 (ich war 12). Mit dieser Leidenschaft verband sich eine ganz andere Stimmung als mit dem Radiobasteln. Ja, ich bemerkte so etwas wie eine Unverträglichkeit beider Bereiche: Technische Dinge und Vorgänge fesselten mich; sie forderten heraus zum handwerklichen Zugreifen, zum Schaffen und zum Verändern. Dem Sternhimmel mußte ich anders gegenübertreten, in ehrfürchtigem Verlangen angesichts seiner Größe und Ferne. War ich von dieser Stimmung erfüllt, so bekam ich den Eindruck, daß die technische Besessenheit mich unrein machte, beinahe so, wie das auch eine niedere Begierde tut.

Sobald es abends dämmrig wurde, begann ich vom Wohnzimmer aus den Himmel abzusuchen nach den ersten Sternen. Am leichtesten war der Abendstern auszumachen, die Venus. Bei Dunkelheit ging ich heraus, in einer Hand die "Nachleuchtende Sternkarte", drehbar, d.h. auf Jahres- und Uhrzeit einstellbar, in der anderen eine Taschenlampe, mit der ich den phosphorzesierenden Auschnitt der Karte alle paar Minuten anstrahlte. So lernte ich bald einen Teil der Sternbilder kennen: Den Großen und den Kleinen Wagen, darin der Polarstern; das Sommerdreieck mit dem Schwan, dem Adler und der Leier; den Perseus - und bald auch den sehr prägnanten Orion.

Dieses Sternbild hatte es mir besonders angetan; dazu der hellste Fixstern des Himmels, der blau-weiß blinkende Sirius im Großen Hund, Begleiter des Jägers Orion. Doch dieser Stern erscheint in unseren Breiten bekanntlich recht tief am Horizont. Man muß schon entweder bis zum Winter warten oder spät in der Nacht hinausgehen, um den Sirius bereits im Herbst zu sehen. Doch ein Hindernis war, daß ich in meinem Alter nicht zu spät hinausgehen durfte!

Meine sehnende Erwartung steigerte sich von Abend zu Abend. Die Sehnsucht nahm ich mit in den Schlaf. Eines Nachts träumte ich mich auf einem Felde knieend, voller Beseligung schauend den Orion über mir, seine Sterne überwältigend groß und hell, darunter dann den Stern Sirius, noch größer, fast wie eine Sonne. So könnten - ich sage es aus meiner heutigen Sicht - die Hirten gefühlt haben, welche zur Geburt des Jesuskindes die Engel des Himmels schauten und ihre frohe Botschaft hörten. Und in der Tat ging es ja auf Weihnachten zu!

Zum Heiligabend bekam ich wunschgemäß ein Himmelsfernrohr für den Sternfreund, wie es damals der "Kosmos"-Verlag anbot. Es bestand nur aus einer großen schwarzen Pappröhre und wenigen optischen Teilen einfacher Art, aber die Vergrößerung war immerhin beeindruckend. Wenn ich es über den Sesselrand legte, mich davor kniete und das Fernrohr sehr ruhig hielt, konnte ich damit recht gut die Sternhaufen und die Mondkrater betrachten. Am interessantesten für mich wurden schließlich aber entfernt liegende Baumkronen mit ihren Vögeln, sowie Häuser im Licht der Straßenlaternen und ihrer Innenbeleuchtung. Nicht daß ich sie nach "menschlichen Objekten" hinter Schlaf- und Badezimmerfenstern abgesucht hätte, wie man das Fernrohrbesitzern - möglicherweise zurecht - unterstellt. Eine derartige Neugier war auch dabei, aber faszinierend war schließlich stets das nur zum Teil Erkennbare, welches der bildgebenden Fantasie Nahrung bot, insbesondere Gardinen- und Tapetenmuster. Diesbezüglich waren Sternhaufen eher unergiebig.

Zu einem Lebensthema wurde mir der nächtliche Himmel, vor Allem die Astronomie, aber nicht. Für ein Teleskop mit standfestem Stativ, welches ein astronomisches Arbeiten erst ermöglicht hätte, fehlten uns die Mittel. Außerdem machte sich die Unvereinbarkeit zwischen Himmelssehnsucht und dem astrophysikalischem Weltbild fühlbar. Letzteres befriedigte mich keineswegs, ja es stieß mich ab. Bis zum heutigen Tag habe ich für dieses reduktionistische Weltbild, das seine geistige Armut mit dem Ideal der Nüchternheit kaschiert, nicht das geringste Interesse. Mit dem beginnenden Frühling und der zunehmenden Tageslänge rückten bald andere Themen in mein Blickfeld.


Innere Stürme. Mit beginnender Pubertät erfuhr mein Innenleben, das für mich immer schon das "eigentliche" Leben war, einen neuen Aufschwung. Jede Veränderung der Landschaft, die ich auf dem Fahrrad durchfuhr, ein aufblinkender Sonnenstrahl, ein Blütenduft, ein Melodie, die aus einem Radio herübertönte - alle möglichen Eindrücke konnten Erinnerungen an traumhafte Augenblicke des Glücks aus der Kindheit auslösen, oder auch neue Glücksgefühle schaffen. Es waren Wogen, die mich jäh hinaufhoben und in wilder, unerfüllbarer Sehnsucht zurückließen. Dies war schmerzhaft umsomehr, als die "Realität", in die ich zurückfiel, für mich nicht gerade anziehend war. Gewiß, ich hatte meine Interessen, wie andere Heranwachsende sie auch haben bzw. hatten, wie Radio hören, kleine Tiere in Terrarien und Aquarien halten, Frösche und Molche fangen, Radiobasteln und Modellflugzeuge bauen, auf dem Schulhof Fußball spielen. Aber das war alles nichts im Vergleich zu der Flut an inneren Eindrücken und Gefühlen, die in meiner Seele spielte.

In der Schule sah ich meist abwesend aus dem Fenster. Mein Blick schweifte in die Ferne, ins Unbestimmte. Auf meine Lehrer wirkte das irritierend, zumal wenn ich auf den Anruf hin nicht gleich reagierte. Zuhause, wo ich nicht stillsitzen mußte, ging ich stundenlang auf und ab, und merkte nicht, wie sehr mein Innenleben sich oft auf meinem Gesicht abzeichnete - durch ausdrucksvolle Mundbewegungen oder auch durch fortgesetztes amüsiertes Lachen. Dann war ich gerade dabei, eine lustige Geschichte auszubrüten. Meine Mutter nahm das, wenn sie es mitbekam, oft ebenfalls amüsiert zur Kenntnis. Ihr Vater, sagte sie, sei auch immer im Zimmer auf und ab gegegangen und habe dabei bisweilen still vor sich hingelacht.

Doch mein Pfeifen von Melodien, das störte sie oft sehr. Ich mußte aber pfeifen, weil ich aus Scham nicht singen gelernt hatte (sehr spät habe ich das nachgeholt). Lange Zeit konnte ich nicht einmal pfeifen; das habe ich, nach langem Bemühen, gerade noch in Aurich gelernt, und nun nutzte ich mein "Können". Ich pfiff oft stundenlang immer wieder dieselben Melodien oder Passagen daraus, was jeden Nebenstehenden zwangläufig auf die Nerven gehen mußte. Hätte ich doch damals schon Instrumentalunterricht bekommen! So hätte das zwanghafte Pfeifen sich gewiß in eine musikalische Kulturform überführen lassen.

So häufig ich - meist scheinbar unmotiviert - lachte, so leicht kamen mir auch die Tränen. Nicht aus Schmerz, sondern aus Anlaß von sentimentalen Szenen in Geschichten oder Filmen. Nicht selten war der Anlaß aber auch eine selbst ausgedachte Geschichte. Der Stolz gebot mir freilich, jede Äußerung von Schmerz oder Sentimentalität zu unterdrücken. Insofern waren die späten Abendstunden die geeignete Zeit, um "traurige", d.h. sentimentale, Geschichten zu ersinnen.


Erwachender Sexus. Ich weiß nicht, wann meine nächtlichen Pollutionen einsetzten, aber es wird im dafür normalen Alter gewesen sein. Sie waren von kurzen, wollüstig-schönen Träumen begleitet. Als ich merkte, daß ich Ejakulationen auch aktiv herbeiführen konnte, tat ich es bald ohne Hemmung - freilich um den Preis der schönen Träume.

Gemeinschaftliche sexuelle Erfahrungen hatte ich in diesen Jahren nicht. Zwar wirkte der Anblick von wenig bekleideten Frauen in Zeitschriften und besonders in den Badeanstalten auf mich oft stark stimulierend. Aber um mit Frauen oder Mädchen den Kontakt zu suchen, dafür war ich viel zu schüchtern; und selbst wenn dieses Hindernis entfallen wäre, so hätte ich mich wahrscheinlich zu ungeschickt angestellt. Da ich ein Jungengymnasium besuchte, war ich derartigen Sorgen aber ohnehin enthoben - zu meinem Vorteil!

Dafür brachte der aufschießende Trieb eine neue Sicht auf einige meiner Kameraden. Als ich mich in der Klasse einmal umwandte, erregte mich das Gesicht des hinter mir sitzenden Schülers, einem der klassenbesten Fußballspieler, in der Weise, daß ich ein heftiges Verlangen spürte, sein Gesicht in die Hände zu nehmen und es abzuküssen. Natürlich unterließ ich das. Diesem Kameraden begegnete ich auch noch in einem Traum: Da lag ich auf einer Wiese am oberen Rand einer Steilwand und blickte, ohne Schwindelgefühle zu haben, in die Tiefe. Dort unten stand der Kamerad, rief mich an und schoß mir einen Fußball zu, steil aufwärts. Als der Ball in meiner Höhe war, erwachte ich mit einer Pollution. Es war ein beseligender Traum, erfüllt von kosmisch-erotischem Schauder. - Auch dies Erlebnis habe ich für mich behalten.

Überhaupt wirkte der Sexus, wenn auch körperlich gegründet und und natürlicherseits auf körperliche Betätigung angelegt, sublimierend auf mein Empfinden. Es geschah noch einmal, daß ein Kamerad, wiederum ein befähigter Fußballer, für ein paar Tage meine verstohlene Neigung erweckte. Er hatte mich in der Klasse sehr lange angeblickt, und übrigens Grund dazu gehabt: Ich war in einem Spiel in der Verteidigung eingesetzt worden, weil mir, obwohl ein schneller Läufer, kein Torschuß oder überhaupt eine Hilfe zugetraut wurde. Diesmal gelang es mir aber, die gegnerische Mannschaft, deren Kapitän er war, aus dem Konzept zu bringen und ihren erwarteten Sieg zu vereiteln. Nun betrachtete er mich mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung. Seine Augen faszinierten mich so, daß ich seinen Blick erwidern mußte, nicht lange standhalten konnte, dann heimlich wieder hinsah, bis er wiederum den Blick, seinerseits furchtlos, auf mich richtete. Es war etwas an seinem Gesicht, das mich faszinierte und mein Herz höher schlagen ließ, mich dadurch aber auch in Verlegenheit brachte.


Hinwendung zur Philosophie. Auch neue Gedanken stürmten jetzt auf mich ein. Meine frühesten Aufzeichnungen hierzu datieren vom Dezember 1963. Das unausgesetzte Denken trug zwanghafte Züge und verlangte geradezu nach einer Kanalisierung. Durch einen Abschnitt aus einem Buch mit dem Titel "Was jeder Junge wissen muß" wurde ich auf die Philosophie und insbesondere auf Nietzsche aufmerksam. Kurz darauf besorgte ich mir den "Zarathustra" aus der Kröner-Ausgabe. Die Lektüre insbesondere der Vorrede und des Vierten Teils berauschte mich; während mehrer Nächte hatte ich wirre Träume von dem, was ich aus diesem Buch und über Nietzsches Krankheit und spätere geistige Umnachtung gelesen hatte.

Zum Geburtstag bekam ich das "Wörterbuch der Philosophie" von Schmidt geschenkt, in dem ich fortan sehr häufig las. Jaspers' "Einführung in die Philosophie", eine Radio-Vortragsreihe, war mir hingegen schon der Sprache wegen kaum verständlich, doch blieb einiges davon, insbesondere aus dem historischem Überblick im Anhang, in meinem Gedächtnis hängen und weckte mein Interesse. Soweit mein Taschengeld es erlaubte, kaufte ich mir weitere Bücher, unter Anderen Störigs "Kleine Weltgeschichte der Philosophie".

Darf ich, diesen Lebensabschnitt betreffend, von einem genuin philosophischen Interesse sprechen? Wohl nur bedingt. In erster Linie suchte ich Antworten auf die Frage nach dem Sinn meines Lebens, selbst dann, wenn ich vorgegebenen philosophischen Fragestellungen nachging. Für die systematische Lektüre von Hauptwerken der Philosophie war ich in diesem Lebensabschnitt noch nicht reif. Immerhin erwarb ich mir einen vollständigen, wenn auch nicht tiefgehenden, philosophiegeschichtlichen Überblick.


Eine entscheidende Begegnung. In dieser Zeit machte ich die Bekanntschaft mit einem 19-jährigen Primaner, dem älteren Bruder eines Klassenkameraden meines Bruders. Mit diesem zusammen erschien er eines Abends in unserer Wohnung; beide stritten über irgendein Thema; ich wurde hineingezogen. Gewöhnlich war mein Bruder streitsüchtig und blieb stur, auch dann, wenn er offensichtlich unrecht hatte; außerdem war er philosophisch völlig uninteressiert. Das dürfte den Besucher motiviert haben, die Diskussion mit mir fortzuführen, und zwar auf philosophischem Niveau, woraus ich sofort die stärksten Anregungen empfing.

Bald darauf erhielt ich einen Brief von ihm, in welchem er mich fragte, ob ich an einem psychologischen Gespräch mit ihm Interesse hätte. Auf diese Weise kam es zu langen gemeinsamen Spaziergängen in der Gegend am Venusberg, in dessen Nähe seine Eltern wohnten. Zunächst ging es um meinen Bruder, den er mit polemischen Bemerkungen bedachte und zum Gegenstand psychologischer Analysen machte. Das gefiel mir nicht schlecht, denn mein Bruder neigte dazu, Freundschaften zu beenden, wenn er in einem Wortgefecht, das meist durch ihn selbst angezettelt wurde, seine intellektuelle Unterlegenheit zur Kenntnis nehmen mußte. Aus meiner Sicht gehörte dieses Fluchtverhalten bestraft.

Natürlich wollte ich von dem "Psychologen" (wie ich ihn nannte, wenn ich zu anderen über ihn sprach) nun auch wissen, wie er mich beurteilte. Das Ergebnis war zwiespältig. Was er mir sagte, soweit es mein Denkvermögen betraf, befriedigte mich in meiner Eitelkeit sehr. Gleichzeitig bescheinigte er mir aber auch seelische Störungen verschiedener Art - ich weiß nicht mehr, welche, aber er empfahl mir, mich mit dem Autogenen Training vertraut zu machen. Wie dem sei, ich fühlte mich bestens verstanden. Er war der einzige Mensch, der sich für mein Innenleben interessierte.

Sein Wissen auf den Gebieten der Philosophie und Psychologie, und nicht nur dort, war enorm und für einen 19-Jährigen, wie ich aus heutiger Sicht bemerke, ungewöhnlich. Später trat er auf einem anderen Gebiet als Fachautor hervor. Jedenfalls wirkten die Gespräche auf mich äußerst anregend. Meine persönlichen Daseinsrätsel vermochte freilich auch er nicht zu lösen. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo ich ihn überforderte. Er zog sich zurück und ließ meine schriftlichen Bitten um weitere Gespräche unbeantwortet.

Nun begann für mich eine Art Studium der Psychologie. Ich kaufte mir Bücher wie "Psychogene Störungen im Kindes- und Jugendalter" von Annemarie Dührssen, sodann Bücher ihres Lehrers, dem Neo-Psychoanalytiker H. Schultz-Hencke: "Der gehemmte Mensch", "Lehrbuch der analytischen Psychotherapie". Ich las schnell; es kamen viele weitere Bücher hinzu, nicht nur aus der Psychiatrie und Psychotherapie, sondern auch aus der Charakterologie und Konstitutionstypologie, später dann Werke von C.G.Jung und seiner Schule. Ziemlich gründlich las ich "Aufbau der Person" von Philip Lersch, nicht zuletzt wegen dessen beeindruckender Sprachbeherrschung.


Die Konsequenz. Obwohl die Lektüre sicher eine sinnvolle Beschäftigung war, wurden meine schulischen Leistungen dadurch nicht besser. Denn auf der Schule wird ja ganz Anderes verlangt. Ich besuchte das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Bonn-Endenich, damals ein reines Jungengymnasium. Die Sexta hatte ich noch geschafft; die Quinta mußte ich wiederholen; aber auf der Quarta stand es mit meinen Leistungen dann wiederum schlecht. Ich wurde zu einem Gespräch mit dem stellvertretenden Direkter (Dr.Krebs), zuleich mein Englischlehrer, gerufen, der die Gründe für mein Versagen erkunden wollte. Ihm erzählte ich alles über meinen Tagesablauf, meine Interessen und meine - vermeintlichen - seelischen Störungen. Hoffte ich, durch meine Offenheit und mein fachliches Wissen zu "glänzen"? Das auch, aber vor Allem wollte ich die Gelegenheit nutzen, mich einem interessierten und lebenserfahrenen Menschen anzuvertrauen.

Darauf wurde meiner Mutter nahegelegt, mich auf ein Internat zu schicken. Als sie mir das mitteilte, brachte sie die Ansicht zur Sprache, daß der oben erwähnte Primaner, mit dem ich soviele anregende Spaziergänge unternommen hatte, einen schlechten Einfluß auf mich ausüben würde. Dies sei so geäußert worden. Sie sagte nicht direkt, aber es schien mir aus ihrer Wortwahl deutlich hervorzugehen, daß man ihm - aufgrund meiner Mitteilungen an den Dr. Krebs - unterstellte, mich sexuell verführt zu haben, oder dies zu beabsichtigen. Ob er sich zum Zeitpunkt meines Gesprächs mit Dr. Krebs bereits von mir getrennt hatte, oder ob er erst aufgrund dieses Gespräches dazu veranlaßt worden war, das entzieht sich meiner Kenntnis.

Der grundsätzliche Verdacht sexueller Verführung durch Mitschüler war damals aber virulent, auch bei meiner Mutter. Einmal muß sie ein Gespräch zwischen mir und einem gleichaltrigen Klassenkameraden durch die Kinderzimmertür mitgekriegt haben, denn sie warnte mich ausdrücklich vor seiner sexuellen Annäherung. Das Einzige aber, was sie auf diesen Gedanken gebracht haben könnte, war dessen lautstarke Erwähnung einer Brunnenfigur in Bonn, einem Jungen oder einem Satyr, der ins Wasser pißt. - In der Schule war ein ebenfalls mit mir Gleichaltriger aus der Klasse entfernt worden, weil er, wie es hieß, sich eines sehr schweren Vergehens schuldig gemacht haben soll, welches aber nicht namentlich benannt wurde. Woran bestand dieses? Er hatte im Pissoir einem anderen Jungen seinen Penis gezeigt. Äußerstenfalls hatte er vor ihm onaniert (ich habe nicht weiter nachgefragt).


Epilog. Wenn ich aus meiner jetzigen Perspektive, d.h. als Vater eines 13-jährigen Jungen, diese Jahre bewerte, dann komme ich zu dem Schluß: Sehr wahrscheinlich wäre mein Lebensgang harmonischer verlaufen, wenn mein Vater Gelegenheit gehabt hätte, seiner Bestimmung nachzukommen. Mein Vater war, abgesehen von dem erwähnten Primaner, der einzige Mensch gewesen, der nicht nur, wie meine Mutter, "das Beste" für mich wollte, sondern sich auch mit meiner Individualität auseinandersetzte. Auf meine Fragen wußte er stets zu antworten; allerdings waren meine Fragen, die ich ihm noch stellen konnte - er starb, als ich zwölf Jahre alt war - nicht psychologischen, sondern eher technischen Inhalts, gemäß meinen damaligen Interessen. Mir sind aber Teile seiner Gespräche mit Nachbarn in Erinnerung, worin er auf gewisse meiner Eigentümlichkeiten einfühlend zu sprechen kam, um mich diesbezüglich in Schutz zu nehmen.

So wie einem Mann nicht zugetraut wird, sich in das Gefühlsleben einer schwangeren Frau hineinversetzen zu können, so ist einer Frau nicht zuzutrauen, sich in das Gefühlsleben eines pubertierenden Jungen hineinversetzen zu können. Am wenigsten dürften Mütter dazu in der Lage sein. Sie sind zu sehr gefangen in das Charakterbild eines Jungen, den sie viele Jahre lang als ihr Kind, und somit als ihr leibliches und teilweise auch seelisches Produkt erlebt haben. Die weitgehend vaterlose Gesellschaft, wie sie heute zum politisch verordneten Modell geworden ist, hat Schäden verursacht, die selbst dann, wenn dieses Modell heute aufgegeben würde, wahrscheinlich noch über Generationen nachwirken werden.


 

1967