Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Die Mutter.

Diese Unterseite wurde ins Netz gestellt am 14-11-09.
Letzte Bearbeitung am 8-6-2011.
Ehepaar Panzer

Meine Mutter (1915-2001) wurde in Mohrungen/Ostpreußen geboren als Tochter von
Julius Richard Liedtke (1886-1958) und der
Käthe Emma Lydia Liedtke (1891-1975), geb. Kordewan.

Die Eltern von J.R.Liedtke waren der Volksschullehrer
Julius Liedtke (gest. 14-11-1904 in Fischhausen/Ostpreußen) und seine Frau
Anna Elise, (geb.8-5-1864 in Tenkitten, Gemeinde Lochstedt, gest. 27-6-1953); deren zweiter Mann war
Gustav Freudenreich, mit dem sie noch zwei Kinder (Herbert und Charlotte) hatte.

Die Eltern von Anna Elise waren der Kantor
Friedrich August Panzer und
Anna Luise Panzer, geb. Schwarz, aus Fischhausen (Ostpreußen).

Julius Liedtke mit Frau und Kindern

Auf dem Foto rechts sehen Sie das Ehepaar Panzer. Friedrich August Panzer war Kantor von Lochstaedt und Lehrer in Tenkitten (beide in Ostpreußen); weitere Lebensdaten liegen mir nicht vor.

Das nächste Foto - links - zeigt ihre Tochter Anna Elise als Frau des Julius Liedtke, den sie um fast fünfzig Jahre überlebte. Er dürfte also erheblich älter gewesen sein. Sie nahm sich dann einen anderen Mann namens Freudenreich. Aus erster Ehe aber, der Ehe mit Julius Liedtke, gingen die beiden hier mit abgebildeten Söhne Richard und Ernst hervor. Richard ist der Vater meiner Mutter geworden. Übrigens habe ich meinen zweiten und meinen dritten Vornamen von diesen Söhnen, also von meinem Großvater mütterlicherseits und einem Onkel.

Brüder Liedtke

 

Sodann sehen wir - rechts - die Brüder Richard und Ernst stehend hinter ihrer Mutter; neben dieser sitzen ihre jeweiligen Ehefrauen. Links, vor ihrem Sohn Richard, sitzt dessen Frau Käthe Emma Lydia, Rufname Emmy; dies sind die Eltern meiner Mutter.

 

Richard Liedtke

Es folgen Einzelporträts von Richard und Emmy Liedtke.

Emmy Liedtke

Der Mann war Volksschullehrer und, nach dem, was mir meine Mutter erzählte, von eher zurückhaltender Wesensart. Mit den Jungenklassen kam er schwer zurecht, doch die Mädchen umschwärmten ihn. Sein Erziehungsstil war milde. Er starb im Schlaf. Ich war damals acht Jahre alt. Da ich die Großeltern nur in den Sommerferien sah, habe ich nur wenige Erinnerungen an ihn zurückbehalten. Eine ist diese: Ich lag im Bett und konnte nicht einschlafen, oder ich ängstigte mich, weil meine Mutter nicht zugegen war. Als ich nach jemanden rief, kam der Großvater herbei, legte die Hand auf meine angezogenen Knie und spendete mir Trost durch seine ruhigen Worte.

Die Großeltern Liedtke mit Kindern

An meine Großmutter - siehe Foto rechts oben - kann ich mich lebhafter erinnern. Wenn sie lachte, dann tat sie es lauter beim Einatmen als mit dem Ausatmen; das prägte sich mir besonders ein. Im Übrigen schien meine Mutter sich mit ihr nicht viel besser zu verstehen als mit meinem Vater; jedenfalls gab es während unserer Ferienaufenthalte einige kritische Situationen, in die auch wir Kinder einbezogen waren. Die Großmutter starb in einem Zustand geistiger Verwirrung.

Im Foto links sehen Sie meine Großeltern um das Jahre 1920. In der Tatsache, daß - ungewöhnlich für damalige Sitten - die Mutter steht, während der Vater sitzt und die Kinder sich an ihn lehnen, kommt eine Art Rollentausch zum Ausdruck, welchen meine Mutter mit ihren Schilderungen bestätigte.

Eva und Ulrich Liedtke

Selten einmal erzählte sie mir von einem Brüderchen, das bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Durch dieses wie auch das folgende Foto - rechts - kommen mir diese Mitteilungen wieder in den Sinn. Einem Vermerk auf der Rückseite des Fotos entnehme ich, daß der Bruder Ulrich hieß. Eine Cousine mütterlicherseits erzählte mir, daß an Ulrichs Tod die ältere Schwester, meine Mutter also, für mitverantwortlich erachtet wurde. Denn damals war es üblich, daß ältere Geschwister die jeweils jüngeren behüteten.

Die Großeltern Liedtke im Jahre 1930

Im folgenden Bild sehen Sie die Großeltern während eines Ausflugs 1930; sodann den Großvater im Jahre 1945, so wie ich ihn auch schwach in Erinnerung habe. Sie lebten nach dem Krieg in Glücksburg an der Flensburger Förde. In ihrer Wohnung in einem Haus an der Paulinenallee verbrachten wir jedes Jahr unsere Sommerferien.

Eva und Ulrich Liedtke

Bei gutem Wetter gingen wir dann an den Strand; nicht selten fuhren wir auch mit den Dampfschiffen "Alexandra" oder "Albatros" nach Flensburg oder zu einem der dänischen Küstenorte. Sonntags machten wir einen Ausflug ins Restaurant Quellental. Dort gab es neben Limonade pro Person auch mehre Stück Torte - für unsere damaligen Verhältnisse war das ein Luxus, und dementsprechend prägte sich dies dem kindlichen Gedächtnis ein.

 


 

Wenden wir uns nun dem Leben meiner Mutter zu.

Die Mutter in jungen Jahren

Nachdem sie 1933 an der Oberschule von Bartenstein (Ostpreußen) die Mittlere Reife erlangt hatte, absolvierte die junge Frau eine dreijährige Lehre an der Buch- und Kunsthandlung Riesemann & Lintaler in Königsberg. Bis zum Bestehen der Gehilfenprüfung 1943 und der Buchhändler-Prüfung 1945 arbeitete sie als Stenotypistin bzw. als Buchhandelsgehilfin in verschiedenen Firmen. Danach übte sie eine Berufstätigkeit erst wieder ab 1960 in Bonn aus, und zwar als Schreibkraft in einem Krankenhaus; dann als Verwaltungsangestellte in der Landwirtschaftskammer; zuletzt als Angestellte im Juridicum der Friedrich-Wilhelms-Universität. Diese letztere Tätigkeit - es ging darum, wissenschaftliche Bücher zu sortieren - strengte sie, eigenen Angaben nach, sehr an, ja schien sie im Grunde zu überfordern.

Um die Zeit ihrer Pensionierung hatte sie die Mittel beisammen, ein Haus zu bauen. Ohne die Witwenrente, nicht zuletzt auch durch die KZ-Rente meines Vaters, wäre ihr das nicht möglich gewesen: Der vielgeschmähte Ehemann hatte also doch noch "seine Schuldigkeit" getan. Wenn ich gegenüber meiner Mutter die Meinung äußerte, sie könne ja wenigstens aus diesem Grunde einmal dankbare Worte für den vorzeitig Verstorbenen finden, so bekam ich zur Antwort, daß andere Frauen ihres Alters schon viel früher zu ihren Eigenheimen gekommen wären, weil sie tüchtigere Ehemänner gehabt hätten bzw. noch haben.

In diesem Hause wohnte sie ohne Mann, doch mit einem Cockerspaniel und mit meinem Bruder. In materieller Hinsicht war unsere Mutter großzügig: Wir wohnten und aßen bei ihr umsonst. Ob dies auch dem Umstand geschuldet war, daß ihr ganz ohne Gesellschaft "die Decke auf den Kopf gefallen" wäre, zumal sie wenig Kontakte hatte und zunächst auch kaum Geld, um zu verreisen, das möchte ich nicht beurteilen. Jedenfalls lebte auch ich der insoweit günstigen Bedingungen wegen zeitweilig bei ihr, doch mein Drang zur Selbständigkeit trieb mich zurück nach Berlin und später nach Afrika.

Ganz ohne Mann lebte meine Mutter allerdings nun doch nicht. Von unserer Auricher Zeit an bis zu ihrem Tod hatte sie nämlich einen festen Freund, einen damals nicht ganz unbekannten Journalisten, der sie häufig besuchte, wenn auch nur stundenweise, und sie gelegentlich auch zu Abendveranstaltungen mitnahm. Diese Beziehung hatte durchaus den Charakter einer fast vollwertigen Ehe. "Fast" sage ich - nicht nur, weil sie nie legalisiert wurde, sondern auch weil dieser Mann sich den Pflichten entzog, die einem Stiefvater den Kindern gegenüber zukommen. Er kam und ging nämlich möglichst unauffällig, oft durch die Gartentür; und dies nicht, weil er sich vor uns Kindern geschämt hätte, sondern einfach, weil er sich keinen vermeidbaren Ballast aufbürden wollte. Mit Geschenken an die Geliebte hingegen sparte er nicht.

Wie meine Mutter mir sagte, datierte die oben erwähnte Bekanntschaft von einem Aufenthalt in einem Lungensanatorium. Tatsächlich verbrachte sie den September, Oktober und November 1952, ich war damals 2 Jahre alt, im Waldsanatorium Rüsselkäfer, Jesteburg, Kreis Harburg-Land, wegen Lungentuberkulose. Aus dem betreffenden Dokument geht weiter hervor, daß ein zweiter Aufenthalt für das folgende Jahr vorgesehen war. Dies dürfte die Zeit von Juni bis August 1953 gewesen sein, denn hierfür existiert die Rechnung des Ev.-Luther. Kinder- und Altenheims Hesel/Kr. Leer (Ostfr.), mit dem Eintrag meines Namens sowie dem meines Bruders. Vermutlich waren wir auch während ihres ersten Sanatorium-Aufenthaltes auf diese Weise untergebracht.

Während also meine Mutter sich in angenehmster Gesellschaft befand - die zahlreichen Fotos von dem Sanatorium-Aufenthalt belegen es -, muß es für uns Kinder eine Phase der Trauer und Verlorenheit gewesen sein. Darum erwähne ich es. Nicht, daß meine Mutter dies so gewollt hätte; im Gegenteil, sie war ja krank. Aber in den bezeichneten Umständen scheint mir eine schicksalsbestimmende Signatur zum Ausdruck zu kommen.


Welch ein seelischer Charakter war ihr zueigen?

Meine Mutter war von sanguinischem Temperament, liebte helle, luftige Räume und fühlte sich zeitlebens hingezogen zum Lebensstil materiell privilegierter Menschen. Die dunklen Seiten des Lebens - im physischen wie im übertragenen Sinne - fürchtete und mied sie. Sie fühlte und wertete oberflächlich, und ihre Oberflächlichkeit hatte eine ästhetizistische Note. Selbst künstlerisch nicht aktiv, umgab sie sich gerne mit Bildern und Kunstgegenständen; vor Allem las sie sehr viel, freilich ausschließlich Belletristik. Damit verbrachte sie einen nicht geringen Teil des Tages. Meist waren es Bücher, die ihr Liebhaber, der Journalist, ihr empfahl.

Hingegen hatte sie für Musik kaum Verständnis. Als ich mich für das Posaunespiel zu begeistern begann und mir eine Posaune zu Weihnachten wünschte, vermochte sie sich anhand meiner Beschreibungen kein Bild von diesem Instrument zu machen. Es bedurfte erst einer Einweisung anhand von Fernsehsendungen, in denen Posaunen zu sehen waren. Auch klanglich konnte sie verschiedene Blasinstrumente, wie etwa Klarinette und Oboe, nicht sicher voneinander unterschieden. Fehler in Musikpassagen, die ich ihr anhand von Schallplatten vorspielte, vermochte sie trotz all meiner Hinweise nicht festzustellen.

Ihr sprachlicher Ausdruck wie auch ihre Rechtschreibung waren einwandfrei, ihre Handschrift ästhetisch ansprechend und originell. Weniger gut stand es um ihr Abstraktionsvermögen. Obwohl ich ihre Liebe zu Biografien teilte, hatten wir diesbezüglich dennoch keinen Gesprächsstoff, einfach weil meine Mutter nicht in der Lage war, Inhaltsangaben zu machen, in denen das Wesentliche zum Ausdruck kam. Wenn sie mir etwas erklären sollte, so geriet sie ins Erzählen. Wenn ich sie aufforderte, mir eine Entscheidung zu begründen, dann erfand sie Gründe. Es fehlte ihr einfach das nötige Reflexions- oder Objektivationsvermögen, um ihre wirklichen Beweggründe in klare Worte zu fassen.

Schlecht bestellt war es auch um ihren Sinn für Technik. Nachdem ich das erste Mal einen Sattelzug gefahren hatte und ihr voller Begeisterung darüber berichtete, konnte ich ihr erst anhand von Zeichnungen begreiflich machen, was einen Sattelzug von einem Hängerzug unterscheidet, und worin die unterschiedlichen Anforderungen im Rückwärts-Rangieren bestehen. Dabei hatte ich den betreffenden Sattelzug auf der Straße geparkt und ihr gezeigt! Nicht verwunderlich ist also, daß schon das Fahren eines Personenwagens für meine Mutter jedesmal ein Abenteuer bedeutete und der bevorstehende Bekanntenbesuch in eines der umliegenden Dörfer sie so aufregte wie mich die Vorbereitung einer Wüstendurchquerung. Folglich ließ sie sich auch gerne durch mich chauffieren, wie sie auch meine sarkastischen Bemerkungen über andere weibliche Autofahrer mit Humor ertrug.

In ihrer Bewertung von Menschen ließ sich meine Mutter stark durch ihr erotisches oder ästhetisches Empfinden leiten. Als wir im Fernsehen uns einmal einen Bericht ansahen, der die späte Ergreifung eines NS-Massenmörders zum Gegenstand hatte, hörte ich meine Mutter in dem Moment seufzen, da das Schicksal des Mörders besiegelt wurde. Es war ein Mann gewesen, der auf Frauen Eindruck machen mußte; und selbst zuletzt hat er, gemessen an seinem Alter, nicht schlecht ausgesehen. - Ebenso bewertete meine Mutter die Politiker grundsätzlich nach ihrer Schönheit. Dies gibt natürlich Anlaß, sich über den Wert der demokratischen Regierungsform und insbesondere des Frauenwahlrechts zu besinnen.

So anziehend meine Mutter auf Männer wirkte - sie sah übrigens stets jünger aus, als es ihrem Alter entsprach -, und so sehr sie die Wertschätzung der Männer genoß, so sehr fehlte es ihr an mütterlicher Wärme. Zwar versuchte sie, eine gute Mutter zu sein; aber indem sie dieser Forderung gerecht wurde, tat sie sich Zwang an. Uns Kinder zu liebkosen, fiel ihr schwer. Sie war einfach mehr auf die Befriedigung der männlichen als der kindlichen Bedürfnisse angelegt.

War meine Mutter unzufrieden oder ließ sie sich zu einem Wortgefecht herausfordern, so konnte sie eine enorme Energie des Streitens entfalten, die bisweilen nur durch die vitale Erschöpfung ein Ende fand. Auf uns Kinder in frühem Alter wirkte das allerdings verheerend. Diese Bereitschaft zum Zank stand in einem auffälligen Gegensatz zu ihrem Harmoniebedürfnis und überhaupt zu ihrem Naturell, das nicht auf große Kraftentfaltung angelegt war, wie auch ihre Stimme sich nicht durch Stärke auszeichnete. Die Frau wirkte in diesem Zustand wie eine von Dämonen Getriebene.

In dem Zusammenhang muß ich ein Ereignis erwähnen, das ohne den tieferen Hintergrund, aus dem es wahrscheinlich zu erklären ist, eher in die Beschreibung meiner Kindheit gehören würde. Ich hatte gedankenlos angesetzt, die Straße zu überqueren, und dadurch einen Lastwagen oder einen Bus zum Anhalten veranlaßt. Wahrscheinlich war die Situation wirklich gefährlich gewesen. Meine Mutter legte mich aufs Sofa und schlug mich regelrecht zusammen. Dabei oder während einer der folgenden Tage, an dem sie die Behandlung wiederholte, zerbrach der hölzerne Kleiderbügel, mit dem sie auf mich einprügelte. Die Frau ging in ihrer Brutalität bis an die Grenze ihrer - zum Glück bescheidenen - Körperkraft.

Dieses Verhalten, so wird mir bei der Niederschrift jetzt klar, könnte aus der Tatsache resultieren, daß meiner Mutter in ihrer eigenen Kindheit der Tod ihres kleinen Bruders zur Last gelegt worden war. Der soll, wie oben schon erwähnt, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sein.


 

>