Irgendwann kamen aus drei verschiedenen Richtungen die Helden Oregano, Sulfur und Acetat zusammen und beschlossen, ein neues Heldentum zu begründen. Das bisherige, so stellten sie fest, sei am treffendsten gekennzeichnet durch die Nachrufe der Todesanzeigen: "Er war immer ein treusorgender Familienvater gewesen", hieß es da etwa, "Er war pflichtbewußt bis in den Tod" oder "Er war immer bemüht gewesen, der Allgemeinheit zu nützen". Es müsse aber, so befanden die Großen Drei, wie sie später genannt wurden, das wirkliche Heldentum durch sich selbst begriffen werden und nicht durch Pflichten oder einen Nutzen für die Allgemeinheit; und um diese Idee und das zukünftige Heldentum neu zu begründen, müßten sie sich zunächst einmal darin üben, unnützlich zu sein. Nach diesem Beschluß trennten sie sich wieder, indem sie ihre Wege fortsetzten, die sie gekommen waren.
Oregano traf auf eine Reklamewand, darstellend einen Mord und daneben einen Mann, der ausruft: "Mich kann das nicht erschüttern - ich bin VITA-lebensversichert." An die Stelle seines Kopfes hatte jemand ein Loch in die Wand getreten; Oregano setzte sich dahinter, guckte die Leute absichtlich blöd an und ließ sich dafür gefallen, daß sie seinen Kopf nacheinander mit Ölfarbe, Lösungsmittel und schließlich mit Spannlack bestrichen. Durch diese Behandlung aber begann sich sein Gesicht derart zu verformen und zu verzerren, daß es gegen seinen Willen die Züge des vorbildlich angepaßten uns insofern nützlichen Normalmenschen annahm und damit an Werbewirksamkeit bald alle bisherigen Modelle übertraf. Auf diese Weise wurde Oregano unfreiwillig als Schauspieler berühmt, folglich nützlich und war somit als Held gescheitert.
Sulfur war von Anfang an konsequenter. Er legte sich ins Bett und sagte sich: "Wozu soll ich meine Heldenlaufbahn draußen fortsetzen, wenn ich genausogut hier liegenbleiben kann?" Kam Besuch, so zog er die Bettdecke über den Kopf; ging der Besuch, so brach er in Gelächter aus. Schließlich schrieb er eine absichtlich verzerrte Selbstdarstellung an die Sozialbehörde, um sich entmündigen zu lassen und der Allgemeinheit zur Last zu fallen; durch Zufall aber wurde der Text veröffentlicht, sein Autor unfreiwillig als Lyriker berühmt und folglich nützlich. Somit war auch Sulfur als Held gescheitert.
Acetat war von Allen der Konsequenteste. Bereits nach dem ersten Schritt sagte er sich: "Wozu soll ich meine Heldenlaufbahn überhaupt antreten, wenn ich sie genausogut im Stehen begründen kann?" Nun aber war der Treffpunkt der Großen Drei ein neu erbauter Brunnen gewesen, dessen Wasser noch nicht floß. Bald darauf begann es zu fließen...und damit begann Acetats Heldentum, wovon uns die Legende berichtet.
Bis zur Hüfte stand Acetet im Wasser. "Komm aus dem Brunnen raus, du holst dir den Tod", sagten die Leute. "Und sofort warm anziehen mußt du dich, besonders mit Wollsocken und langen Unterhosen." Doch Acetat verließ den Brunnen nicht. Schließlich riefen die Leute im Chor:
"Acetat, werde vernünftig!"
Gleichwohl, es nützte nichts. Da beschworen die Leute das Wasser, daß es immer kälter werde, so kalt, daß Acetat den Brunnen verlassen und sich sofort warm anziehen müsse, besonders mit Wollsocken und langen Unterhosen. Und tatsächlich, das Wasser wurde kälter, bis es zu Eis gefror, und noch kälter, sich annähernd dem absoluten Nullpunkt von minus zweihundertunddreiundsiebzig Grad - doch Acetat verließ den Brunnen nicht.
Nur in der Mitte, dort wo Acetat stand, den Blick offen in die Weite gerichtet, die Arme frei erhoben, war das Wasser noch nicht gefroren; leicht schwankte es um seine Hüften, dem Rhythmus seines Atems folgend. Die Milch aus den Brüsten der steinernen Meeresungeheuer war versiegt; geronnen zu Eiszapfen hing sie steif an den Zitzen, silbern glänzte der Rauhreif auf ihren eisblumenbeschlagenen Körpern. Ein bizarres Eisgebirge mit seltsamen Figuren, Zapfen und Torbögen umschloß den kaltblauen Gletscher des Brunnenbeckens. Das ständig verdampfende Eis kondensierte zu gewaltigen Dampfschwaden, die sich rasch zu undurchdringlichen Wolken verdichteten und ebenso rasch wieder verflossen. Es war ein beständiges Zischen und Fauchen, besonders wenn eine warme Windböe über den Brunnen ging: Dann war das Zischen ungeheuer, und der ganze Platz war für Augenblicke von dichtestem Nebel ausgegossen.
Jeder vernünftige Mensch wäre spätestens jetzt aus dem Brunnen gesprungen, hätte sich schleunigst abgetrocknet und warme Wäsche verlangt, besonders Wollsocken und lange Unterhosen. Doch Acetat blieb unvernünftig. Jeder normale Mensch hätte sich unweigerlich eine Grippe oder zumindest einen Schnupfen geholt, doch Acetat holte sich keine Grippe und keinen Schnupfen, denn er ist nicht normal. Jeder der Allgemeinheit angepaßte Mensch hätte sich binnen kürzester Frist den Tod zugezogen, doch nicht so Acetat, denn er ist nicht angepaßt.
Seht, wie er dort steht in der Schmelzwasserzone des kaltblauen Brunnengletschers: Den Blick in die Ferne gerichtet, die Arme frei erhoben, unbezwinglich selbst durch die eisigste Kälte. Das Wasser mag noch so kalt werden: Doch Acetat verläßt den Brunnen nicht. "Wir und das Wasser", reden die Leute und das ganze Stadtvolk: Doch Acetat verläßt den Brunnen nicht.
Immer neue Helden der Anpassung traten auf den Plan, um Acetat zu bezwingen. Die rührige weißhaarige Kunigunde war eine der unzähligen alten Damen, die unerschrocken den Kampf mit ihm wagten. Dicht trat sie an den Brunnen heran und rief: "Acetet, du Lausebengel, komm sofort aus dem Wasser raus! Wir haben genug Wollsocken und lange Unterhosen für dich gesammelt." Und noch dichter trat sie an das Becken heran.
Das war nicht gut für Frau Kunigunde, das war nicht gut. Sie trat zu dicht heran, und das war nicht gut. Denn nicht war die Wärme des Herzens in ihr, die Acetat das Eis der unendlichen Kälte schmelzen ließ. Blaß wurden ihre Hände und bleich ihr Gesicht; ihr Haar wandelte sich in gläsernes Gestrüpp, und kälteklirrend klapperte sie eilends von dannen, stolperte über einen Stein und fiel zu Boden wie ein tausendgläsiger, eitler Kronenleuchter, dem das Seil abgeschnitten wurde. Oh, wie das klirrte, klingelte und scherbelte! Hinüber war sie, hinüber! Ihre Überreste, ein Haufen Scherben zerschepperter Scheiben, wurden zusammengekehrt, aufgewärmt und in eine Urne abgefüllt. Kunigunde war eine der vielen Helden und Heldinnen, die ihr Leben im Kampf gegen die Unvernunft Acetats verloren, weil sie nicht mehr rechtzeitig die schützenden Wollsocken- und Unterhosenberge erreichten.
Und seht, heute noch steht Acetat im Brunnen der ewigen Kälte und des Eises. Heute noch ist sein Blick in die Weite gerichtet,sind seine Arme frei erhoben: Unbezwinglich ist seine Ausdauer, unbezwinglich ist sein Widerstand gegen die Kälte. Jeden Morgen, wenn die Sonne ihren Lauf beginnt am Horizont des Ostens, ist Acetat der Erste, den sie empfängt. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht am Horizont des Ostens, ist der Bürgermeister der Erste, den sie blendet. Ihm ruft der Nachtwächter zu: "Auch in dieser Nacht ist das Wasser noch nicht kalt genug geworden; Acetat steht immer noch im Brunnen!" Also tritt der Bürgermeister aus seinem Haus, steigt über das Gebirge von Wollsocken und langen Unterhosen vor seiner Tür, geht hin zum Brunnenplatz und ruft:
"Acetat, werde vernünftig!"
Und die Fenster der umliegenden Häuser öffenen sich und tausendfältig schallt es über den Platz:
"Acetat, werde vernünftig, -tig, -tig, -tig!"
Doch Acetat wird nicht vernünftig. Die Sonne steigt, der Bürgermeister geht, doch Acetat bleibt. Golden blinkt im Glanz des Morgens sein bronzener Körper, diamanten gleißt der Gletscher des Brunnenbeckens. "Welch greulichem Götzen opfert ihr da eure Aufmerksamkeit", redet der Pfarrer zu den Leuten, "einem goldenen Kalbe habt ihr euch ergeben!" Und eilig läuft er zur Kirche, die Glocken zu läuten; klar und kühl schwingen ihre Klänge durch das Eisgebirge. Mit jedem Glocken- und Glaubensschlag wird das Wasser kälter; doch Acetat verläßt den Brunnen nicht. "Der Glaube versetzt Berge, besonders die von Wollsocken und langen Unterhosen": Doch Acetat verläßt den Brunnen nicht.
Seit unausdenklichen Zeiten schon leuchtet sein Sonnengesicht durch die Torbögen des Eisgebirges; in beständigem Rhythmus kristallisiert sein funkelnder Atem auf Stein und Gletscher. Immer werden die flüchtigen Nebelgeister ihre Reigen tanzen um den Brunnen der Kälte und des Eises, und immer wird die Glorie Acetats und die Glut seiner Seele leuchten durch die Stadt der unseligen Vernunft.