Persönliche Seite von T.R.E.Lentze

Laubacher Impressionen. (1972)

1

Zwar ist Laubach ein heilsamer Luftkurort; doch sollte, wer nicht mehr als eine Kur nötig hat, auch nicht mehr verlangen und nicht ins Krankenhaus gehen. Wer die landschaftlichen Schönheiten Laubachs in sich aufgenommen hat und dabei den überdimensionalen Friedhof, heute der größte Oberhessens, als eine beunruhigende Erscheinung vermerkt hat, der sollte bedenken, daß der fast ausschließliche Lieferant dieses Friedhofes das Laubacher Krankenhaus ist.

Einer der noch relativ am glücklichsten davongekommenen Patienten hat mir sein Erlebnis erzählt, wie er sich wegen Wurmbefall hat behandeln lassen. Man hat ihm sofort den Bauch und den Darm aufgeschnitten, um die Viecher zu fangen; doch die sind jedesmal schnell in die Gegenrichtung geschwommen, so daß die Fingernägel des Arztes sich immer wieder in den falschen Darmabschnitt krallten. Schließlich hat man die Jagd aufgegeben.

Nach der Entlassung traten jedoch bald unklare Beschwerden auf, woraufhin man ihn einer Nachoperation unterzog. Dabei stellte es sich heraus, daß man versehentlich ein Operationsmesser und ein angebissenes Brötchen im Körper des Patienten hatte liegen lassen. Das Brötchen wäre natürlich längst mit Kalk überzogen und steinhart geworden, hätten sich seiner nicht etliche Blutgefäße und Nervenfasern angenommen. Da es nun organisch zum Körper gehörte, ließ man es einfach drin. An das Messer hat man dann schon nicht mehr gedacht und den Leib wieder zugenäht.

Nunmehr muß der Patient darauf achten, daß er beim Binden seiner Schnürsenkel sich nicht zu tief bückt; denn das scharfe Messer, das mit der Spitze genau nach oben steht, bohrt sich dann jedesmal ins Herz, was augenblicklich einen stechenden Schmerz hervorruft. Vor allem aber muß er aufpassen, daß er sich nicht zu häufig bückt; denn mit jeder Krümmung des Leibes schneidet sich das Messer ein Stück tiefer ins Brötchen ein.

"Au, mein Brötchen tut weh !" klagte er anläßlich einer derartigen Erfahrung dem Arzt. - "Warum müssen Sie sich denn auch dauernd bücken ?" fragte Dr. Scharlatanowski fassungslos und beleidigt. "Wir haben es damals vor Ihrer ersten Operation doch schon geschnitten und geschmiert und den besten trichinösen Schinken dazwischengelegt ! Jetzt haben Sie es im Bauch, das heißt praktisch, Sie haben es gegessen. Kennen Sie denn überhaupt keine Dankbarkeit ?"

2

Eines Tages kam jedoch auch ich einmal wegen einer Erkrankung, die unverzüglich behandelt werden mußte, in die Verlegenheit, das Laubacher Krankenhaus aufsuchen zu müssen. Der Taxifahrer, nicht sehr ortskundig, konnte nichtsdestoweniger auf den Stadtplan verzichten; denn drei schwarze Aasgeier kreisten beständig über dem von ihrem Mist beinahe schon eingedeckten Haus.

Bei meiner Ankunft vertiefte ich mich sogleich in den Artikel einer Fachzeitschrift, der an der Wand des Flures angeschlagen war und den vielversprechenden Titel trug: "Die jüngsten Fortschritte der medizinischen Forschung berechtigen uns zu den höchsten Hoffnungen." Plötzlich hatte ich den Eindruck, als würde jemand mit vollgelaufenen Schuhen herankommen, aus denen mit jedem Schritt eine Flüssigkeit herausspritzt.

Ich blickte auf und sah am hinteren Ende des Flures einen kleinen dicken, völlig mit Blut übergossenen Mann heranstampfen. Wie er näherkam und mich erblickte, begann er mit einer hohen, schrillen, vor Mitleid bebenden Stimme zu rufen: "Vater im Himmel, hab Erbarmen mit uns Menschenkindern ! Gerade habe ich wieder einen Fall erledigt, jetzt kommt bereits der nächste unter das Messer des barmherzigen Bruders. Will das Leiden und das Unglück hier auf Erden denn überhaupt kein ein Ende mehr nehmen ?"

Voller Bestürzung eilte ich ihm entgegen und brachte ihm meine Gerührtheit zum Ausdruck. "Daß einem Arzt so viel am einzelnen Menschen gelegen ist, findet man heute nur noch selten", erklärte ich ihm. - "Jaja, die Menschen", entgegnete Dr. Scharlatanowski wehleidig. "Sie gehen mir dahin wie Staub unter den Fingern. Was sind wir Menschen doch vor Gott !" - "Eben überhaupt nichts !" antwortete ich beklommen.

Als wir in den Operationssaal kamen, fiel mir auf, daß dieser sechseckig war. Da sagte ich: "Jeder gewöhnliche Operationssaal ist viereckig, dieser aber ist sechseckig. Was ist damit bezweckt ?" - "Kindlein," antwortete er und wischte mir mit seinen blutverschmierten Wurstfingern durch die eben zurechtgemachte Frisur, "ist nicht auch die Bienenwabe von der Gestalt eines Sechseckes ? Und liegt es da nicht nahe, angesichts des herzzerreißendes Leides und des sinnlosen Mordens, das wir beileibe nicht erst in fernen Landen zu suchen brauchen, sondern" - er hob mahnend den Finger - "das wir oft genauso gut aus allernächster Nähe beobachten können, daß wir da uns voll liebender Hingabe an dem köstlichen Safte des Blütenstaubes laben" - es fiel ihm ein Bluttropfen von der Decke auf die Lippen - "den Gott uns in seiner unendlichen Gnade übereignet hat ?"

Der Saal schwirrte von Wespen und anderen Insekten, die sich an den Leichenteilen zu schaffen machten. "So sei denn dieser Saal ein Sinnbild der Süße, die Gott uns durch seine lieblichen kleinen Vögelchen zuteil werden läßt ! - Kindlein" - und hier nahm seine Stimme plötzlich einen sehr unschuldigen Ton an - "laßt uns jetzt hurtig, hurtig mit dem mildtätigen Werk einer Narkose beginnen !", und er griff zu einem wuchtigen Hammer, der ihm vom Boden bis ans Kinn reichte.

Was daraufhin geschah, daran konnte ich mich während der letzten zwei Jahre, die seither vergangen sind, nicht mehr erinnern.